Laut Jean Baudrillard leben wir nicht in der Realität. Wir leben in einer Simulation. Was wir wahrnehmen, ist nur eine ästhetische Halluzination der Realität. Technisch reproduzierbare Bilder haben ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft verloren. An die Stelle des Sinns ist die Simulation getreten. Die Bilder gehen der Welt voraus. Sie modellieren alles Reale. Bild und Wirklichkeit gehen ununterscheidbar ineinander über.[1] Für Günther Anders und Jean Baudrillard sind die technischen Bilder nicht nur deshalb fatal, weil sie aufgrund ihrer Referenzlosigkeit unaufhörlich wuchern, damit die echten Bilder zerstören und die Welt entbildlichen, sondern vielmehr, weil das Individuum angesichts der Bilderflut in tiefer Gleichgültigkeit versinkt.[2]

Nun gut, lassen wir das so einmal stehen, wirklich neu ist es ja nicht. In gewisser Hinsicht durchaus von Übertreibung geprägt, zumal einiges davon formuliert wurde, als das Fernsehzeitalter gerade erst begonnen hatte.

Die Bilderflut auf Instagram ist zwar gewaltig und eventuell beginnt sich unsere Welt für Instagram umzubauen, aber leben wir deswegen gleich in einer Simulation? Selbst wenn sich der Pop-Up-Urbanismus einen Ort, eine leere Fläche sucht, sich abbilden lässt und weiter zieht oder Restaurants sich zum Instagrammable-Place redesignen bzw. die Selfie-Ecken zum normalen Museums-Setting gehören: Nachahmung und Wiederholungspraxis liegen scheinbar in der Natur des Menschen – die Instagram-Ästhetik hat sich eben bewährt.[3]

Mit dem Tod auf Pfaderprobung

Abgesehen davon ist ein Abenteuerleben erst wirklich, wirklich authentisch, wenn es Fotos davon gibt. Dafür kann man am Mount Everest schon mal mit ein paar Toten in der Schlange stehen. Das digitale Subjekt braucht die ständige Pfaderprobung[4] – on- und off the beaten path. Na gut, von Zeit zu Zeit gibt es dann einen heftigeren Zusammenprall zwischen TV-Voyeurismus und Social Media-Tourismus, wie im Falle von Tschernobyl, aber sind die Antworten vom Atomphilosophen Anders deswegen gleich weniger antiquiert?

Hin und wieder frage ich mich natürlich schon, ob man sich mitverantwortlich macht, wenn man noch mehr Fotos teilt. Aber wie soll man sonst seiner Kreativität Ausdruck verleihen und nach self growth streben?[5] Und warum sollte Echtzeit nicht repräsentierbar sein?

Eben! Und derart besonders war der Brokkoli-Baum dann auch wieder nicht.

Here we go, das sind meine „4 Things to see and do in Český Krumlov“:

Schiele, altes Haus

Český Krumlov ist ja schon lange kein Netz-Geheimtipp mehr. Tatsächlich war ich nur wegen dem vermeintlichen Selfie-Star Egon Schiele dort. Ich wohnte in einem der Häuser, die er gemalt hatte. Anders und Baudrillard zum Trotz: Das Stadtbild sieht noch genauso aus, keine Spur von Global Village. Vielleicht ist Schieles Interpretation der Häuser etwas subjektiv, aber doch eine gelungene Einbalsamierung, finde ich.[6]

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Old Houses in Krumau, 1914 - Albertina Wien

Oh, du schöner Feudalismus

Etwas trübte allerdings die Reisestimmung: Der Zugang zum Barocktheater blieb mir verwehrt. Im Schlosstheater Český Krumlov gibt es eine original erhaltene Bühnenmaschinerie sowie Originalkulissen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Besucht werden darf das Theater nur während eines jährlichen Barockfestes, leider äußerst begrenztes Platzangebot. Etwas Trost spenden die Einblicke auf Youtube und die restlichen Pastellbilder vom Schloss.

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Graffiti – pretty backdrops for Instagram

Unbedingt festzuhalten sind Graffiti. Sie können flüchtige Dinger sein, aber Streetart macht sich einfach zu gut im kapitalistischen Onlinedienst. Das Medium dirigiert die Künstler_innen nun vermehrt zu quadratischen Pieces – eindeutig leichter zu verarbeiten, als die Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert im Burghof.[7]

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Fotoatelier Josef Seidel: Der Ursprung von allem?

Unter #seidelmuseum findet man bloß 10 Beiträge auf Instagram. Irgendwie plagt mich jetzt doch so etwas wie ein Gewissen und unweigerlich muss ich an die Anfänge des Brokkoli-Baums denken. Aber dann fällt mir ein: selber schuld – Josef Seidel hat schließlich damit angefangen!

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Quellen:

1: Baudrillard, Jean 1986: Jenseits von Wahr und Falsch oder Die Hinterlist des Bildes. 

2: Anders, Günther 1956: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution.

3: Reckwitz, Andreas 2007: Medien und die Geschichte des Subjekts.

4. Ebd.

5. Ebd.

6. Bazins, André 1975: Ontologie des fotografischen Bildes.

Weitere Links:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/streetart-in-zeiten-von-instagram-was-ist-wichtiger-die.2156.de.html?dram:article_id=421433

https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/16/instagram-veraenderung-sicht-welt-selfie-alltag-reisen