Es ist der letzte Tag vor dem Ablaufen der Frist, um noch rechtzeitig fürs Sommersemester zu inskribieren: Eine Nummer hab ich schon gezogen! Mir hat mal jemand erzählt, dass sich in diesem Zeitraum pro Stunde ungefähr 150 bis 180 Studierende anmelden. Zwischen all den Menschen, am Gang der Uni, beginne ich erst einmal zu rechnen.

Februar

Tatsächlich weiß ich nicht mehr, wieviel Zeit ich damit verbracht hatte, Wahrscheinlichkeiten auszurechnen und gebannt auf die Nummernanzeige zu starren. Ab einem gewissen Punkt geht es ziemlich schnell, finde ich. Die Nummern rattern in Zehnerschritten hoch und ich bekomme Angst vor dem Moment, wenn die Anzeigentafel auf meine Zahl umspringen wird.

Kurz darauf stehe ich im Sigmund-Freud-Park und meine Augen werden ganz glasig. Wahrscheinlich bekomme ich jetzt hohes Fieber oder schlimmer: Ich werde für viele Monate schwer krank, fährt es mir durch den Kopf. Aber schon in wenigen Wochen wird der Studienprogrammleiter erklären, dass wir uns mit der Inskription ein bedeutendes Präsent gemacht haben – während ich völlig gesund dasitze und überlege, ob sich so nur ausgesprochen groß geratene Geschenke anfühlen.

März

Seit dem Sommersemester studiere ich am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Wenn man es genau nimmt, muss man zuerst durchs Knock-out-Verfahren – etwas zynisch Studieneingangs- und Orientierungsphase (STEOP) genannt – danach darf man richtig studieren. Im Netz wird dazu geraten, für die Prüfungen recht viel auswendig zu lernen. Die Lehrenden sind da anderer Meinung. Anfangs schwöre ich, niemals nur auswendig zu lernen, aber schon nach sehr kurzer Zeit hoffe ich, nicht alles verstehen zu müssen, um durchzukommen.   

Nach einiger Zeit lerne ich eine Studienkollegin kennen, die ursprünglich aus Deutschland bzw. urursprünglich aus China stammt, und eine weitere Kollegin, die wiederum ursprünglich aus Irland, urursprünglich Südtirol kommt. Trotz der – keine Ahnung – mehr als 200 Studierenden ist es nicht leicht, eine Lernbande zu bilden. Auf deren Geheiß sitze ich dann gemeinsam mit ihnen in der ersten Reihe, was mir zu Beginn ziemlich peinlich ist. Später stellt sich aber heraus, dass dort Tonaufnahmen eindeutig bessere Qualität haben, denn was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahne: Ich werde um die 25 Stunden transkribieren – freiwillig versteht sich.

Währenddessen ist das Zuhause ein Spießrutenlauf. Am Boden, an den Wänden, überall, kleben Mindmaps, Bücher stapeln sich und man muss ziemliche Umwege einschlagen, um von Zimmer zu Zimmer zu gelangen. Für einen schnellen Überblick starte ich mit der Geschichte der deutschsprachigen Literatur und deren Strömungen ab dem 16. Jahrhundert. Danach versuche ich die Theatergeschichte zuzuordnen, hier beginne ich freilich schon etwas früher, gefolgt von einigen Epochen Philosophiegeschichte. Wochenlang sortiere, gliedere und probiere ich einzuteilen: Merkmale, Werke, Hintergründe, Zeitgeist, Theaterbauten, literarische Gattungen, psychologische und ökonomische Einflüsse, mythische und magische Zeichen, alte Medien, neue Medien, Schauspielstile, doppelte Orte – bis zum globalen Hyperkortex. Eigentlich weiß ich bald nicht mehr, was ich genau suche, denn ich habe das Gefühl: Ich muss sämtlichen Dingen in meinem Leben eine neue Bedeutung geben – doch bemerkenswert, was alles in ein semiotisches Dreieck passt.

Erst nach wochenlangem Sortieren finde ich dann den Fehler: Das gewählte Fachgebiet lässt sich nicht einfach so einteilen.

Die STEOP gleicht einer Achterbahnfahrt. Es ist ein permanentes Auf- und Ab, was weder an der Organisation noch an den Inhalten liegt – später werde ich diese Monate tatsächlich als ein Geschenk an mich betrachten – aber zunächst sind es eine Reihe Selbstzweifel, die mich befallen. Es gibt Tage, wo einfach nichts weitergeht und der Erkenntnisgewinn äußerst mühsam ist. Ich kann mir nichts merken, finde nichts heraus, habe keine Erklärung – nur schlecht ist mir oft. Auch wünsche ich mir, einfach meine beschriebene Platte löschen zu können. Zwischen all diesen Gedanken, passiert dann genau das Gegenteil, was diese Phase nicht beschreibt: große Orientierungslosigkeit. Und daneben rennt noch der Broterwerb.

Früher

Das ständige Auf- und ab und die große Anstrengung lassen mich an meine Kindheit zurückdenken: Als ich noch sehr klein war, lief ich ständig einen Hügel hinunter – danach ging es sofort wieder nach oben. Ich wiederholte diese Übung immer und immer wieder aufs Neue, weil ich fest entschlossen war, wenn ich nur das richtige Tempo hielt und hoch genug sprang, könnte ich eines Tages auch fliegen. Selbst als ich älter wurde, wetzte ich den Hügel aus Spaß noch hinunter. Vielleicht trieb mich auch ein Rest Unglaube dazu, wer weiß – jedenfalls sorgte es für das völlige und bis heute anhaltende Vergnügen meines Umfelds.

April bis Mai

In der STEOP finden zwei Vorlesungen gleichzeitig statt: „Einführung in das Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft“ und „Theatrale und mediale Inszenierungsformen“. Jede Vorlesung besteht aus drei Themengebieten (Film, Medien, Theater). Insgesamt werden die Blöcke von sechs unterschiedlichen Lehrenden abgehalten. Das bedeutet vier Vorlesungs- plus zwei Tutorien-Termine pro Woche – Mentoring lasse ich aus. Manchmal bringe ich alles durcheinander und weiß nicht mehr, in welcher Einheit wir welche Lektüre vor uns haben, denn meine Freiwilligenliteratur kommt ja noch dazu. Das wöchentliche Lektürepensum ist hoch und in der Regel muss man vieles mehrfach lesen, einige Textstellen erschließen sich erst nach und nach – und das kann dauern.

Hinzu kommen Folien, Skripten und in etwa 40 Filmbeispiele, eine Website mit Fachbegriffen und noch mehr Filmbeispiele. Die Lektüre gehen wir meistens in der Gruppe durch, manchmal sind wir zu dritt, manches Mal sogar zu viert. Alte Prüfungsfragen sind ein gut gehütetes Geheimnis, wenige tauchen auf und wenn, werden sie in Regel auch nicht mehr gestellt. Die Vorlesungen ohne Folien oder mit wenig Unterlagen transkribiere ich. Als Nächstes gestalte ich aus zig abgetippten und verfassten Seiten eventuelle Prüfungsfragen. Es entsteht ein Umfang von mehreren hundert Seiten an möglichen Fragestellungen, die ich nach all diesen Monaten fast zur Gänze beherrsche. Zum Ende hin lerne ich mit zwei Kolleg_innen, die ich nicht kenne und persönlich auch nie treffen werde, über WhatsApp.

Heute

Rückblickend kann ich also bestätigen, dass die TFM-STEOP heftig ist, insbesondere für jemanden, der das Lernen wieder lernen muss und einen konträren Background hat (den Job lass ich mal unter den Tisch fallen). Laut Studienprogrammleiter gehört diese STEOP zu den schwierigsten in Wien. Allerdings ist es genau so abgelaufen, wie eingangs besprochen: ohne Bluff oder falsche Versprechen – ganz im Gegenteil, es war sehr fair.

Auch vor der Frage wurden wir eingangs gewarnt, die tatsächlich nach den bestandenen Prüfungen einlangt und mich plötzlich doch irgendwie überrascht: Denn dann erklärt mir mein Umfeld, dass Pensionist­_innen den Studierenden nicht die Studienplätze wegnehmen sollen, schließlich hat jeder seine Zeit gehabt und im gleichen Atemzug werde auch ich gefragt, was ich mit diesem Studium überhaupt will und wann ich gedenke je fertig zu sein. Ich antworte: „Ich weiß nicht – eventuell werde ich mal fliegen!“