Charakteristische Gesamtanalyse von Emilia Galotti unter der Regie von Andrea Breth

Zu Beginn des Semesters haben wir uns kurz in der Lehrveranstaltung „Aufführungs- und Inszenierungsanalyse“ persönlich kennengelernt. Die Lehrgangsleiterin stellte uns ein ehrgeiziges Programm mit vielen Theaterbesuchen vor, aber es kam ganz anders: nur wenige Tage später der Lockdown. Der Präsenzunterricht wurde auf distance learning umgestellt und ebenso fielen die Theaterbesuche ins Wasser. Somit lag der Schwerpunkt dieser Lehrveranstaltung auf der Analyse von Videos. Ungeachtet dessen möchte ich nun meine erste Inszenierungsanalyse, die ohne Interpretation und Adjektive auskommen soll, vorstellen. Nicht zuletzt weil mich viele bei der Suche nach dem Musikmöbel tatkräftig unterstützt haben.

https://twitter.com/matscha/status/1265201213022310400

Ich freue mich über Kommentare, Input, Verbesserungsvorschläge oder weitere Ideen.

Emilia Galotti

Erstaufführung 2003 – Burgtheater Wien, Inszenierung: Andrea Breth

Zeitliche Einordnung, Merkmale

Gleich zu Beginn – die Geräusche verraten, dass das Publikum soeben Platz genommen hat – ist die Stimme eines Mannes in italienischer Sprache zu hören.1 Gleichzeitig schwenkt die Nahaufnahme auf eine Musiktruhe.2 Das Möbelstück ist schätzungsweise aus den 50er oder 60er Jahren.3 Die Aufführung stammt nicht aus dieser Zeit, doch liegen die Jahre zwischen Tradition und Moderne und können damit die Plausibilität bestimmter Redewendungen des Lessing’schen Originals aufrechterhalten. Auf jeden Fall charakterisiert die Inszenierung Fünfzigerjahre-Eleganz, das Dolce-Vita-Prinzip, fiebernde Moral und Drastik. Das Radiogerät leuchtet. Folglich ist das Gerät „an“ und die Stimme aus dem Off entpuppt sich als Radiosprecher. 4 Bei genauerem Hinhören wird deutlich, dass es sich um die Franziskus-Legende, Fioretti di San Francesco, das Gleichnis von Franz von Assisi handelt.5 Franziskus bzw. die Stimme aus dem Rundfunk erklärt, wie leidvoll „Die vollkommene Freude“ sei. 6

Charakteristik , Bühnenraum, Bühnenbild

Der Bühnenraum besteht aus Holzwandtäfelungen, die sich von der Wand bis auf den Fußboden ziehen. Dahinter befinden sich Wellenvorhänge, die in Stromlinienformen von der Decke fallen. Klassische A4-Blätter liegen auf dem Fußboden, sie verlaufen in Bahnen. Die Holzausnehmungen im Tonmöbel sehen aus wie Streifen, wie die im Trinkglas eingearbeiteten Linien. Vor den Gardinen, die zusätzlich den Effekt eines Weichzeichners haben, wurden Lederfauteuils in der Farbe Ocker platziert. Es sind Armlehnstühle, die „Kubus“ genannt werden.7 Sie stehen für das Geometrie-Design sowie für das Leitmotiv des Quadrats.  Schlichtheit und Reduktion sind nicht nur die Formsprache des Architekten,8 sondern die „gradlinige Oberflächlichkeit“ ist charakteristisch für die gesamte Inszenierung. Entsprechend gestaltet sich das Bühnenbild im Lustschloss Dosalo.9 Es kommen lediglich ein paar Lederfauteuils und Nachttischlampen mit Stoffschirmen hinzu, die in Falten gelegt sind.10 Gleichermaßen gehören Tapeten mit Linien zur Ausstattung, wenn die Szenerie in die Wohnung der Galottis überführt.11 Erneut sind Sitzmöbel – Bugholzsessel in Schwarz-Hochglanz, die nach Thonet-Kaffeehausstühlen aussehen – die einzigen Möbel auf der Bühne.12

Kostüme, Requisiten

Die Kostüme von Dagmar Niefinds geben, passend zum Raumkonzept von Annette Murschetz, Assoziationshilfen. „Ich habe zu früh Tag gemacht. – Der Morgen ist so schön“13, als das Stück beginnt, ist der Prinz noch im Seidenpyjama und trägt ein Schaltuch.14 Sein Aufzug ändert sich nur kurz: vollkommene Nacktheit,15 hernach ein Frotteehandtuch,16 nochmals Pyjama, gefolgt von Unterwäsche,17 anschließend greift er zum Anzug.18 Die restliche Zeit ist er im Seidenanzug zu sehen – gewissermaßen Kleidung im Gardinenweiß. Marinellis Anzug, die Weste und die Krawatte matchen mit den Polstermöbeln.19 In seinen Lederschuhen kann man sich spiegeln, Hut und Mantel passen ebenso.20 Wie sich noch herausstellen wird, sind die Accessoires der Gräfin Orsina – Handschuhe und Clutch – auf das Dunkelrot des Hemdes Marinellis abgestimmt.21 Orsinas Abendkleid mit Pailletten-Besatz betont nicht nur die Schlankheit der Gräfin, sondern in gleicher Weise Qualität und Geschmack ihrer Kleiderwahl. Dem Maler Conti steht Bordeaux. Er hat eine Cordjacke sowie die dazugehörende Hose in dieser Farbe an – Geradlinigkeit, die obendrein vom Cord-Stoffmuster ausgeht.22 Wie der Prinz tauscht Emilia Galotti während der Aufführung ihre Kleider. Zunächst trifft sie mit Weste, Bluse und Rock aus der Kirche kommend zu Hause ein. Folgerichtig harmoniert ihr Gewand mit den Tapeten der elterlichen Wohnung.23 Für die bevorstehende Vermählung entscheidet sie sich für ein Maxikleid im Meeresblau, sowie eine Alba-Rose im Haar.24 Der Graf Appiani trägt einen Sommerstoffanzug aus Bleifarben mit Gitterkaro, das gibt die Großaufnahme preis.25 Um seinen Hals liegt ein Schal mit Steppnaht und ebenso gehört ein Mafiosihut zu seinem Styling. Claudia, die Mutter Emilias, hat ein Abendglitzerkleid an, kombiniert mit einem Karomantel. Kurzum ist der Wollanzug Odoardo Galottis, wie der Gehrock, Ton in Ton.26 Angelo, der Auftragsmörder, ist im Gangsterstreifenanzug, seine Krawatte kann als Hautfarben bezeichnet werden. Pirro, der Bedienstete der Galottis – wie sollte es anders sein –, hat eine Streifenweste an und wird eins mit dem Bühnenbild.27 Requisiten fallen wenige ins Auge: hie und da ein Teller, ein Taschenspiegel aus Gold, ein Zahnstocher, Zigarettenetuis, Sonnenbrillen, Aschenbecher, Trinkgläser, Handschuhe und der Dolch, die Mordwaffe. Zigaretten allerdings zählen in dieser Zeit zum Symbol von italienischem Lebensgefühl,28 nicht zuletzt rauchen der Prinz und Marinelli in einer Tour.

Musik, Geräusche, Tonfall

Die erzählerische Genauigkeit der Inszenierung wird nicht nur in den Kostümen, im Lichtkonzept und im Bühnenbild zutage gefördert, sondern genauso in jedem Tonfall, in jeder Geste, in jedem Geräusch wie dem Grillenzirpen, dem Rauschen des Radiosenders oder in der Musik, die mit italienischem Jazz im Hintergrund für Atmosphäre sorgt. Wobei es scheint, als habe die Breth dem südländischen Flair für ein Musikstück den Rücken gekehrt, um zum englischen Bach zu wechseln: zu Henry Purcell.29 Für „Hear my Prayer, o Lord“ – das Gebet, das zu Beginn des Theaterstücks von einem Chor aus dem Musikmöbel dringt – verwendet Purcell nur einen Vers aus dem Bußpsalm 102 und verarbeitet ihn zu einem kaum dreiminütigen Satz. Dieser ist geprägt von einer dreitönigen Chromatik auf dem Wort „crying“30 – so nimmt die Tragödie ihren Lauf.31

Der zweimalige Ruf nach Gott aus dem Munde des Prinzen und das Blut an seinen Händen beenden den Theaterabend.

Emilia Galotti -Lessing – Andrea Breth – Burgtheater Wien – belvedere

Details

Titel Emilia Galotti
Erstaufführungsjahr 2003
Erscheinungsjahr
des Videos
2007
Autor/inLessing, Gotthold Ephraim
BühnenbildMurschetz, Annette
Darsteller*inKoch, Roland (Marinelli)
Darsteller*inWokalek, Johanna (Emilia Galotti)
Darsteller*inKönig, Michael (Odoardo Galotti)
Darsteller*inBechtolf, Sven-Eric (Hettore Gonzaga)
Darsteller*inOrth, Elisabeth (Claudia Galotti)
DramaturgieWiens, Wolfgang
EnsembleBurgtheater Wien
FernsehregieMorell, Andreas
InszenierungBreth, Andrea
KostümeNiefind, Dagmar
LichtKoppelmann, Alexander
MusikChernin, Elena
ProduktionsfirmaORF
ProduktionsfirmaZDF Theaterkanal
Produktionsfirma3sat
SpielstätteHaus der Berliner Festspiele

Quellen:

1 Die folgende Gesamtanalyse zum Stück „Emilia Galotti“, einer Inszenierung von Andrea Breth am Wiener Akademie-Theater, basiert auf einem Videomitschnitt aus dem Jahr 2003. Zu beachten ist, dass aufgrund des Videomitschnitts z. B. nicht immer der ganze Bühnenraum zu sehen ist und es sich bereits um eine eingeschränkte Darstellung des Stücks handelt. Daher und um nicht über den Rahmen hinauszugehen stellt die Gesamtanalyse keine vollständige Analyse dar, sondern behandelt nur für das Thema relevante Szenen.
2 Die erste Nahaufnahme zeigt eine Flasche mit Alkohol, genau genommen einen Wild Turkey 1855 Reserve Whiskey; Edition Burgtheater 07 – Franz Grillparzer – Emilia Galotti. Emilia Galotti, R: Andrea Breth, 2007, ORF/ZDF Theaterkanal/3sat, o. A., Minute: 0:03–0:11.
3 Die Recherche ergab, dass es sich dabei um den deutschen Hersteller Telefunken und die Serie Salzburg de Luxe Hifi 2554 handeln könnte.
4 Edition Burgtheater 07 – Franz Grillparzer – Emilia Galotti, Minute: 0:11.
5 “se noi tutte queste cose sosterremo pazientemente e con allegrezza, pensando le pene di Cristo benedetto, le quali noi dobbiamo sostenere per lo suo amore; o frate Leone, scrivi che in questo è perfetta letizia.”

„und wenn wir alles das in Geduld und Fröhlichkeit über uns ergehen lassen, es als Buße seitens Christi, des Gesegneten, erachtend, die wir um seiner Liebe willen erleiden dürfen: dann, Bruder Leo, schreibe, daß hier und hierin die vollkommene Freude liegt.“
6 Hermann Hesse, Franz von Assisi, Berlin: Suhrkamp/Insel 1988, S. 57.
7 Edition Burgtheater 07 – Franz Grillparzer – Emilia Galotti, Minute: 0:45.

8 Der Kubus-Sessel wurde von Josef Hoffmann 1910 entworfen; Wittmann, Wittmann Produkte Kubus, https://www.wittmann.at/produkte/kubus/, 27. 05. 2020.

9 Edition Burgtheater 07 – Franz Grillparzer – Emilia Galotti. Emilia Galotti, R: Andrea Breth, 2007, ORF/ZDF Theaterkanal/3sat, o. A., (Teil 2) Minute: 13:28.

10 Ebd.

11 Edition Burgtheater 07 – Franz Grillparzer – Emilia Galotti, Minute: 34:56.

12 Ebd.

13 Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Historisch-kritische Ausgabe, Lessing: Werke in Einzelausgaben 1, hg. v. Elke Monika Bauer, Tübingen: Max Niemeyer 2004, S. 5.

14 Edition Burgtheater 07 – Franz Grillparzer – Emilia Galotti, (Teil 1)Minute: 00:46.

15 A. a. O., (Teil 1)Minute: 04:01.

16 A. a. O.,(Teil 1) Minute: 04:31.

17 A. a. O.,(Teil 1) Minute: 32:25.

18 A. a. O., (Teil 1)Minute: 33.02.

19 A. a. O., (Teil 1)Minute: 21:18.

20 A. a. O., (Teil 1)Minute: 25:34; (Teil 2) Minute: 11:36.

21 A. a. O., (Teil 3) Minute: 00:57.

22 Edition Burgtheater 07 – Franz Grillparzer – Emilia Galotti, (Teil 1) Minute: 16:27.

23 A. a. O., (Teil 1)Minute: 45:19.

24 A. a. O., (Teil 1)Minute: 25:37.

25 A. a. O., (Teil 2)Minute: 48:04.

26 A. a. O., (Teil 1)Minute: 41:17.

27 A. a. O., (Teil 1)Minute: 37:18; 37:33.

28 A. a. O., (Teil 1)Minute: 00:24.

29 Jedoch wird der Backrockmusikkomponist von Zeitgenossen für die Kraft seiner musikalischen Affekte geschätzt, die man sonst nur dem Italienischen zuschreibt.

30 Choir of Trinity College Cambridge, „Hear My Prayer, O Lord, Z. 15“, 1993; O. A., „Bachakademie Stuttgart. Gott und die Welt I“, Programmheft Gächinger Kantorei Stuttgart Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, 2015–2016, S. 9–13.

„Hear my prayer, O Lord, and let my crying come unto thee. Hide not thy face from me in the time of my trouble, incline thine ear unto me when I call. O hear me, and that right soon.“

„Herr, höre mein Gebet und lass mein Schreien zu dir kommen! Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not, neige deine Ohren zu mir; wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald!“

31 Und ein weiteres Musikstück klingt aus dem Phonomöbel: Die Arpeggione-Sonate. Sie weist die für Schubert typische Mischung aus Heiterkeit und Melancholie auf; Andras Schiff, „Sonata in A minor D821, ‚Arpeggione‘. II Adagio“, 2011.