1. Einführung und Ausgangslage
Der Film Entuziazm (Simfonija Donbassa) ist vor allem aufgrund des kreativen Umgangs Dziga Vertovs mit dem neuen Tonmedium bekannt. Auf der Tonebene stellt er der Kirchenmusik die Internationale gegenüber.[1] Im Ticken der Uhr und im Ruf des Kuckucks kündigt sich die kommende Revolution an.[2] Keine Frage, Vertovs filmische Verfahren unterstützen auch eine gesellschaftspolitische Idee, die mal sowjetische Infrastruktur, mal wichtige Führerpersönlichkeiten betrifft und damit im weitesten Sinn der Propaganda dienen. In meiner Arbeit geht es aber primär um seine analytische Filmkunst und die Suche nach dem Proto-Digitalen in seinem Werk.
2. Bildsprache
Neben angesprochenen experimentellen Umsetzung des Tons springt auch die Bildsprache ins Auge. Vertov reduziert die Bildsprache aufs Zeichenhafte: „auf Krone mit Kreuz, Kreuz auf einer Kirche, Niederknien vor einem Heiligenbild oder das Küssen der Füße einer Christusstatue.“[3] Den ersten Teil des Films versteht Vertov als die alte Ordnung. Als Gegenpol dazu zeigt er, wie Elektrizität eine in der Dunkelheit liegende Stadt illuminiert, die Arbeit an Hochöfen, die Kohleproduktion und die Landarbeit. Für ihn Signa der neuen Ordnung. Gezeigt wird die Realisierung einer Utopie im Donbass.[4] Kohlebergwerke als wirksame Symbole des Sowjetplans – genauer: Stalins Fünfjahresplan.[5] Aber genauso wie Vertov die geheimnisvolle Welt des Kinos entmystifizieren und das Filmverfahren offenlegen wollte, ging es ihm darum, selbst Bestandteil der Gesellschaft zu sein und nicht aus Distanz über sie zu reflektieren. Das heißt, ein Arbeiter sollte sich auf der Leinwand wiederfinden: Somit bringt die Donbass-Sinfonie industrielle Klänge und Blicke auf die neue Arbeitswelt im Donbass-Becken in Einklang.[6] An dieser Stelle haben wir es mit einer Aushandlung des Verhältnisses von „Beobachten und Konfigurieren“ zu tun.[7] Dabei tappt Vertov aber nicht etwa in die Falle der realistischen Repräsentation, denn die Rückkoppelung funktioniert nicht als Mise en abyme, also als Beobachten beim beobachtenden Zuschauer, sondern er möchte durch seine Verfahren und Praktiken des Sichtbarmachens (ich schließe ein Hören mit ein), „den Bewegungen der Dinge“[8] sowie ihrer „lebendigen Verbindung auf die Spur kommen.“[9] Denn das Kameraauge ist für ihn nicht äquivalent zum menschlichen Auge, es schafft eine eigene Wirklichkeit bzw. „eine Erweiterung der natürlichen Wahrnehmung“[10], wie Klemens Gruber festhält.[11] Weiter merkt Gruber an, dass es Vertov nicht nur um die Inszenierung der Arbeit geht, sondern er gewinnt dieser „Lobpreisung“ eben auch etwas Analytisches ab.[12] Vertov setzt in die Tat um, was in erster Linie als Potenzial und Versprechen existierte: „tiefer in die sichtbare Welt einzudringen“[13], um „das Unsichtbare sichtbar zu machen“.[14] Auffällig ist aber, dass Vertov an einigen Stellen im Film den Blick auf einen zentralen Aspekt freigibt, auf dem sogar der Medientheoretiker Marshall McLuhan später seine These aufbauen wird: die Elektrizität bzw. das elektrische Licht.[15]
3. Ikonizität
Gruber betont, dass die von Vertov erzeugten Bilder „[sich] als glühendes Licht in die Netzhaut einbrennen“.[16] In Vertovs abstrakten Bildern erkennt er latente Ikonizität. Die latente Ikonizität führt er auf Roman Jakobson zurück, der damit auf die hinter den Gesten stehende Bildlichkeit hinweist, von der sie sich im Laufe ihres Gebrauchs gänzlich gelöst haben[17] – das Bild „erscheint“. Ebenso setzt sich Annette Michelson am Beispiel von „Drei Lieder für Lenin“ mit dem Begriff des Ikons auseinander, wenn auch vor dem Hintergrund einer anderen Bildkategorie.[18] Im Zusammenhang dieser Arbeit ist vor allem der Aspekt der Ikone, den sie entdeckt, ein sehr interessantes Merkmal: „Der Einschluss dessen, was verschiedentlich als ozivka/osifka (von ozivat ‚erleuchten‘), dvizka/twiska (von dvigat, ‚bewegen‘) oder svetik/swetik (‚kleiner Schimmer‘) bezeichnet wird; all diese Ausdrücke bezeichnen jenen Schimmer der Pupille des Auges, der ihr Licht verleiht und durch Licht Bewegung und durch beides zusammen den Anschein von Leben oder Präsenz im Portrait der Ikone [aufweist]“.[19]
Vor diesem Hintergrund möchte ich nun die Brücke in die Gegenwart schlagen – doch nicht zum wahrscheinlich naheliegenden Begriff des Icons. Vielmehr setze ich im Jahre 1999 an, in dem die Mission Ikonos startete. Der Erdbeobachtungssatellit umkreiste in knapp 700 Kilometer Höhe die Erde und war der erste kommerzielle Himmelskörper mit scharfen Augen, der alles, was auf der Erde mindestens einen Meter groß war, erkannte. Die Lichtstrahlen wurden von Ikonos, kaum dass sie von der Erde eingetroffen waren, in digitale An-Aus-Signale verwandelt und als Funkimpulse postwendend zur Erde zurückgeschickt. Die Funkimpulse von Ikonos landeten in einer Antenne und aktivierten Elektronen – Stromstöße jagten durch ein Kupferkabel. Stromstöße, die ein Lichtbild der Erde in sich trugen. Doch hat die Fähigkeit von Kupfer, Informationen zu transportieren, klare Grenzen.[20] Zu Zeiten Vertovs war es noch unvorstellbar, dass diese Grenzen jemals erreicht werden würden. Heute wissen wir: Ein anderes Transportmittel für Informationen musste her. Eines, das schneller schwingt als alles andere (An-Aus-An-Aus-An-Aus-An-Aus), und eines, das sich „bändigen“ und verschicken lässt, am besten so schnell wie Licht.[21] Dass man Licht nicht in Kupferdrähten transportieren kann, scheint auf der Hand zu liegen: Die Leitungen, durch die jetzt das Stakkato von Lichtstößen jagt, ist aus Glas (hergestellt aus Silizumdioxid und Quarz).[22] Kurze Rückbesinnung: Was müssen wir tun, um visuelle Informationen aus aller Welt zu erhalten? Die Antwort lautet, wir müssen sie anschauen und uns täuschen lassen. Oder anders gesagt, heutzutage werden elektrische Signale, z. B. ein Katzenvideo, in Lichtschwankungen bzw. Lichtimpulse umgewandelt (elektrooptischer Wandler). Ein Laser schickt dann das Licht durch das Glasfaserkabel. Es fällt auf eine Halbleiterdiode und wird wieder in elektrische Signale transformiert (optoelektrischer Wandler). Der Rest ist bekannt: Ein Katzenvideo erscheint als Abbildung einer Katze.[23]
4. Macht der Bewegung
Zu Vertovs Zeit war die Elektrifizierung erst im vollen Gange. Noch feierten Kohle und Stahl ihre Triumphe. Noch gab es keine erschreckenden Datenmassen – zur Vervielfältigung dienten z. B. Lichtpausverfahren. Noch hieß die Zukunft Industrialisierung.[24] Aber das Samenkorn war bereits in der Erde, fast zur selben Zeit wie die Donbass Sinfonie, im Jahre 1934, meldete der Amerikaner Norman French das erste Patent für ein optisches Telefonsystem an, das aus Glaskabeln bestand. Es folgte 1947 der erste Transistor und 1960 der erste Laser. [25] 1966 kam der amerikanische Wissenschaftler Charles Kao auf die Idee, Licht in Glasfaserkabel zur Übermittlung von Telefongesprächen zu verwenden.[26] Neben der Elektrizität legt Vertov in seinem Film das Gewicht aber auch auf den Enthusiasmus, z. B. in der Darstellung der Arbeit, genauer gesagt, hinsichtlich der Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Er führt eine Beziehung zwischen Mensch und Maschine vor, in der die Versöhnung von Arbeit und Spiel verwirklicht scheint, hält Gruber fest.[27] In den Fluchtlinien gegenwärtiger Diskurse tendiert die Auffassung dahin, dass „die digitale Medienkultur unkörperlich sei, abstrakt-vergeistigt oder schlicht nicht-materiell wäre“.[28] Vor diesem Hintergrund lenkt die Medienwissenschaftlerin Shirin Weigelt die Aufmerksamkeit auf den Moment, wenn User_innen die digitale Oberfläche ihres Devices berühren.[29] Eben dieser Kopplungsmoment – sprich die Verbindung zwischen Mensch, Maschine und Programm – ist es auch, den die Wissenschaftlerin für entscheidend hält, beim Versuch mit dem Mythos des Digitalen, der Unkörperlichkeit aufzuräumen.[30] Also neunzig Jahre später schreibt auch Weigelt „Die Beobachtung des nimmermüden Knöpfchendrückens […] führte […] bisweilen zu der Vermutung, der (postdigitale) Mensch sei weder ein wissenwollendes noch schaffenwollendes, sondern ein genuin spielendes Wesen, ein homo ludens“[31] – Icons werden aktiviert. In jedem Fall, so denke ich, hatte Vertov gänzlich andere Vorstellung von Körperlichkeit und Bewegung. Denn einerseits kontrastiert er in Entuziazm die alte und die neue Ordnung durch eine didaktische, dynamische Montage und anderseits verband er mit der (rasenden) Bewegung, auch das unmittelbare und umstürzlerische Einwirken auf das Bewusstsein der Gesellschaft.[32]
5. Sieg über die Finsternis
Zunächst erschrecken mich seine Bilder. Menschen, die, bevor sie in den Schacht ziehen, über der Erde einheitliche Handgriffe und Bewegungsabläufe erlernen, und Stoßarbeiter, die erklären, wie sie damit das geforderte Soll erfüllen. Alles scheint zwar in Bewegung und ist doch sehr gleichgeschaltet. Aber was bedeutet es heute, zu arbeiten? Ein Großteil der Menschen in unseren Gefilden tendiert dazu, die Arbeit nach ein- und demselben Muster zu verrichten: vor dem Bildschirm sitzend, lediglich die Finger über ein Keyboard bewegend – egal, ob es sich um Anwältinnen, Software-Entwicklerinnen, oder Reisekaufleute handelt.[33] Die Stahlarbeiter verbinden lange glühende Metallstangen, die sie aus dem „Rachen des wilden Tieres“,[34] wie es Gruber beschreibt, zerren. Uns verbindet vielmehr – je nach Wohlstand – ein Netz aus Lichtwellenleitern. Wie die Männer im Film, die das „wilde Tier besiegen“, haben auch wir einen Urfeind besiegt: die Dunkelheit. Spielte damals der „Sieg über die Sonne“ eine bedeutende Rolle in der Geschichte der russischen Avantgarde, so ist es heute der „Sieg über die Finsternis“,[35] denn die Lichter gehen nun selbst nachts nicht mehr aus, genausowenig wie viele Displays. Auf diese Weise bietet die Arbeiterschaft ihren gesamten Tag als Kapital dar, bezahlt wird aber nur dann, wenn die Zeit tatsächlich zellularisiert wird.[36]
6. Ausblick
„Aus der Arbeit ein Spiel machen“[37]: Dies ist bis heute der Slogan in einer Ära, in der Arbeit Spaß machen soll – augenblicklich unter den Begriffen Gamification oder Playful Work subsumiert. Shirin Weigelt macht dies deutlich, wenn sie vom „nimmermüden Knöpfchendrückenden homo ludens“ spricht, oder anders formuliert: vom spielerischen Betätigen von Schaltflächen oder dem Aktivieren von Icons. Ausgehend davon wäre es lohnenswert, sich mit dem theoretischen Hintergrund des iconic turns als Charakteristikum der heutigen „Wissensgesellschaft“ auseinanderzusetzen und infolgedessen mit der Erforschung von Bildern und deren Materialisierungsbedingungen. Ausgehend davon ließe sich fragen, wie sich Vertovs These hinsichtlich des „Film-Auges“ („Auge der Materie“[38]) – also der analogen Kamera als Wahrheitsmaschine bzw. als Apparat zur „Vervollkommnung des Sehens“[39] – bei digital generierten Bildern („Auge des Geistes“[40]) verhält. Ist nun von einer „Vervollkommnung der Einbildungskraft“ auszugehen? Dies wäre nur eine von vielen weiterführenden Fragen, denn in meinen Augen erzeugt Vertov in Entuziazm nicht nur ein musikalisiertes, abstraktes „Lichtspiel“, er deutet bereits viele „Reflexionen“ unserer heutigen Zeit an.
[1] Vgl. Walter Gasperi, „Entuziazm (Simfonija Donbassa)“, Kultur-Online, 14. 05. 2019, https://www.kultur-online.net/inhalt/entuziazm-simfonija-donbassa, 05. 02. 2021; Entuziazm/Simfonija Donbassa, R.: Dziga Vertov, 1930 (restauriert von Peter Kubelka 1972)
[2] Vgl. Walter Gasperi, „Entuziazm (Simfonija Donbassa)“, 05. 02. 2021.
[3] Ebd.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. ebd.
[6] Entuziazm/Simfonija Donbassa, R.: Dziga Vertov, 1930 (restauriert von Peter Kubelka 1972)
[7] Barbara Wurm, „Schauen wir uns an! Axiome der filmischen Menschwerdung“, Mr. Münsterberg und Dr. Hyde: Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments, hg. v. Marcus Krause/Nicolas Pethes, Bielefeld: transcript 2007, S. 105.
[8] Dziga Vertov, „Wir. Variante eines Manifestes“, Texte zur Theorie des Films, hg. v. Franz-Josef Albersmeier, Ditzingen: Reclams Universal-Bibliothek 72017, S. 32f.
[9] Vrääth Öhner/Lena Stölzl, „Sichtbarmachen. Problemaufriss mit Dziga Vertov“ Sichtbar machen. Politiken des Dokumentarfilms, hg. v. Elisabeth Büttner et. al., Berlin: Vorwerk 2018, S. 7.
[10] Klemens Gruber, Die polyfrontale Avantgarde, Wien: Sonderzahl 2020, S. 34.
[11] Vgl. Gruber, Die polyfrontale Avantgarde, S. 34.
[12] Vgl. a. a. O., S. 71.
[13] Öhner/ Stölzl, „Sichtbarmachen“, S. 7.
[14] Öhner/Stölzl, „Sichtbarmachen“, S. 7.
[15] Vgl. Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle – „Understanding Media“, Düsseldorf [u. a.]: ECON 1992, S. 18.
[16] Gruber, Die polyfrontale Avantgarde, S. 72.
[17] Vgl. Gruber, Die polyfrontale Avantgarde, S. 72.
[18] Vgl. Annette Michelson, „Die kinetische Ikone in der Trauerarbeit. Prolegomena zur Analyse eines Sprachsystems“, Verschiedenes über denselben, hg. v. Klemens Gruber, Wien [u. a.]: Böhlau 2006, S. 61–84.
[19] Michelson, „Die kinetische Ikone in der Trauerarbeit“, S. 69.
[20] Stefan Just/Ilona Rühmann et al., Reflexionen. Licht- Medium der Zukunft, München: WWF Vertrieb 2000, S. 108.
[21] Vgl. Stefan Just/Ilona Rühmann et al., Reflexionen, S. 112.
[22] Vgl. ebd.
[23] Vgl. a. a. O., S. 114.
[24] Vgl. ebd.
[25] Vgl. ebd.
[26] Vgl. ebd.
[27] Gruber, Die polyfrontale Avantgarde, S. 70.
[28] Shirin Weigelt, „Tasten. Taktilität als Paradigma des Digitalen“, Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft, hg. v. Anja Breljak et al., Bielefeld: transcript 2019, S. 107–128, hier: S. 109.
[29] Vgl. Weigelt, „Tasten“, S. 116.
[30] Vgl. a. a. O., S. 109.
[31] A. a. O., S. 125.
[32] Vgl. Filmmuseum, Dziga Vertov, 2006, https://www.filmmuseum.at/kinoprogramm/schiene?schienen_id=1215680369198, 18.12.2020.
[33] Franco „Bifo“ Berardi, Die Seele bei der Arbeit. Von der Entfremdung zur Autonomie, Berlin: Matthes & Seitz 2019, S. 72.
[34] Vgl. Gruber, Die polyfrontale Avantgarde, S. 70.
[35] Sieg über die Sonne lautet der Titel der ersten futuristischen Oper der Künstler Alexei Krutschonych, Welimir Chlebnikow, Michail Matjuschin und Kasimir Malewitsch.
[36] Berardi, Die Seele bei der Arbeit, S. 93.
[37] Gruber, Die polyfrontale Avantgarde, S. 70.
[38]Almuth Hoberg, Film und Computer. Wie digitale Bilder den Spielfilm verändern, Frankfurt/NewYork: Campus 1988, S. 71; vgl. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 339;
[39] A. a. O., S. 34.
[40] Hoberg, Film und Computer, S. 71.