„Der letzte Wagen ist immer ein Kombi“ [1] – selbst wenn das amtlicherseits nicht völlig korrekt ist,[2] schließlich werden Leichenwagen als Bestattungskraftwagen geführt und nicht als Pkw kategorisiert.[3] Doch in der Regel werden gemeinhin Fahrzeuge der Oberklasse wie etwa der Marken BMW oder Mercedes-Benz für die letzte Fahrt bevorzugt.[4] So kann in Wien der abschließende Reiseantritt beispielsweise im eleganten Konduktwagen der Mercedes-E-Klasse vonstattengehen.[5] In den USA ist es zumeist ein Lincoln oder Cadillac und in Großbritannien mitunter sogar ein Rolls-Royce, der entsprechend umgebaut wird.[6] Demnach hat sich rund um den Leichenwagen eine äußerst lebendige internationale Sammelgemeinschaft gebildet.[7] Zu einem der begehrtesten Modelle zählt der Cadillac Miller-Meteor (1959), der als Eco-1 in der Science-Fiction-Fantasy-Komödie Ghostbusters bekannt wurde. In der Tragikomödie Harold und Maude war es hingegen ein Cadillac Superior (1959)[8] und in der schwarzhumorigen Komödie Death at a Funeral wurde ein Daimler Hearse 1983 mit dem falschen Leichnam beladen.[9] Von der Meinung abergläubiger Naturen abgesehen, die etwa behaupten, dass im Leichenwagen ohnehin noch niemand gestorben sei,[10] muss die letzte Fahrt nicht unbedingt im luxuriösen Abholdienst enden. Insofern finden sich auf vielen Wiener Grabsteinen nicht nur Referenzen auf die „Blutspuren“ des Automobils, etwa nach einem tödlichen Verkehrsunfall, sondern auch Abbildungen der luxuriösen Lieblingsgefährten mitsamt eingraviertem Nummernschild von passionierten von passionierten Autofahrer*innen.
1. Der Friedhof als „Schnittstelle“ und „Gräber als Display“
Zunächst stellt sich die Frage, was eine solche Abbildung am Grabstein implizieren kann. Noch unter den Lebenden ist ein Digitalbild des eigenen Autos oft in tausendfacher Ausführung als Fotografie am Smartphone abgespeichert, mit dem es dank „sozialer“ Netzwerke zugleich in die Welt hinausgetragen wird. Aber was bedeutet eine derartige Multiplizierung als zweidimensionale, in handlich gebrachte Form auf der letzten Ruhestätte? Es ist nicht nur Erinnerung für die Hinterbliebenen – möglicherweise an schöne Reisen oder Ferien. Bereits geplant zu Lebzeiten wird es zum Eigenobjekt, das über die Lebensdauer des Gefährts und der*des Gefährtin*Gefährten hinausgeht, sich erhält und somit am Grabstein vorgezeigt werden kann. Zu beachten ist auch, dass die Karre ein Wertobjekt darstellt: Sind die Dienste des Autos zu Lebzeiten erfreulich, kann es letzten Endes ebenso für eine sichere Zuflucht garantieren. Könnte es, verstanden als „gewissenhafter“ Fährmann, für die reibungslose Überfahrt sorgen? Grundsätzlich ist es ja genau die Bestimmung eines Autos, sich im Freien zu bewegen, gegen Wind, Wetter und andere Widrigkeiten zu schützen. Technisch mittlerweile sehr zuverlässig gebaut, ist es kein „wirkliches“ Sicherheitsproblem mehr und steht geradezu für die Bewältigung jedweden Alltags, egal ob Stadtflitzer oder Geländewagen. Hierin besteht aber nicht nur eine Ambivalenz, denn zugleich erachten es seine Besitzer*innen als besonders schutzbedürftig, sie decken es zu, putzen und pflegen es, bevorzugen eine Garage als sicheren Unterschlupf anstelle eines Parkplatzes auf offener Straße und von Zeit zu Zeit wird es von vielen auch zärtlich gestreichelt. Einerseits wird mit Auto die Welt etwas kleiner, andererseits aber auch größer. Mit Vierrädern geht es raus in die Natur, die zeitgleich vom Auto bedroht wird. Trotz aller Widersprüchlichkeiten, so scheint es, läuft in „unserer“ Welt ohne Automobil gar nichts, genauso wenig wie für einige Menschen in der Welt danach. Dieses Wechselspiel zwischen Alltäglichem (das Auto mitten im Leben) und dem Nichtalltäglichem (das Auto als „letztes Wort“ am Grabstein) stellt für mich einen produktiven Untersuchungsgegenstand seitens der Medien- und Kulturwissenschaften dar. Denn wie schon Roland Barthes festhält, darf mensch nicht vergessen, dass „das Objekt der beste Bote des Übernatürlichen ist“.[11] Weiter fährt Barthes fort: „Gerade im Objekt liegt die Vollkommenheit und zugleich die Abwesenheit eines Ursprungs, eine Geschlossenheit und ein Glanz, eine Verwandlung des Lebens in Materie (Materie ist viel magischer als das Leben), kurz, eine Stille, die zum Reich des Wunderbaren gehört“[12] – und offensichtlich in das Reich des Wunderbareren führen soll. In diesem Sinne hat auf den Wiener Friedhöfen das Automobil weder den Menschen noch umgekehrt der Mensch das Automobil verlassen.
In der Tat fungiert der Friedhof als eine Art „Schnittstelle“ zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten.[13] Nirgendwo sonst wird das innere Gedenken – dazu gehören unter Umständen auch alltägliche Leidenschaften, die am Friedhof als unkonventionell erscheinen mögen – auf das gerichtet, „was ‚nach dem Leben‘ kommt“.[14] Ferner lässt sich an den Grabsteinen ablesen, was sich für die leidenschaftlichen Autobesitzer*innen zum Problemfeld entwickelt, nämlich nicht nur die Frage, was nach dem Leben kommt, sondern insbesondere, was ein Nachleben ohne vierrädrigen Gefährten* bedeutet. Somit wird deutlich, dass gerade die Grabsteine der Autoliebhaber*innen auch mit gesellschaftlichen Veränderungen und Implikationen Schritt halten. Denn die „Auto-Vermächtnisse“ berichten nicht nur darüber, wie sie ihre Besitzer*innen durch das Leben gebracht haben, sondern auch, wie sie von der Welt gehen bzw. fahren möchten. Traditionelle Formen von Begräbnisstätten werden somit von „innovativen“ Konzepten abgelöst. Demzufolge lässt sich an der modernen Ruhestätte ebenfalls mittels Auto-Darstellungen der Trend zur Individualisierung ablesen.[15]
Den Forschern Thorsten Benkel und Matthias Meitzler nach zu urteilen, „rücken alltagsweltliche Verweise vermehrt an die Stelle religiös konnotierter Symbole wie dem Kreuz, den gefalteten Händen, Jesus- oder Mariendarstellungen“.[16] Genauer bezeichnet Meitzler diese Tendenz als „Gräber als Display“,[17] die als eine „individuelle Biografie“[18] eingerichtet werden. Anhand der Gräber lassen sich demnach Vorstellungen von Selbstverwirklichung als einzigartig gestaltete Individualität, persönliche Wahlfreiheit und individuelle Selbstbestimmung, sprich „Auto-nomie“-Diskurse, ablesen.
Infolgedessen ergeben sich folgende Fragestellungen, die ich in dieser Semesterarbeit beleuchte:
- Wie stellt sich die Ästhetisierung des Automobils auf letzten Ruhestätten dar?
- Wie ist das Automobil am „Display des Grabes“[19] als „Applikation“ individualisierter Glaubensangebote eingebunden?
- Wie produziert sich das „auto-nome Selbst“ anhand der Beziehung zu Objektivitäten wie der „Applikation“ von Autos am Grabstein?
2. Forschungsstand
Wie bereits angesprochen, haben sich Soziologe Thorsten Benkel und Kulturwissenschaftler Matthias Meitzler eingehend in ihrer Forschung mit dem sozialen Wandel der Bestattungskultur beschäftigt. Ihre Ergebnisse sind unter anderem in den Werken „Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe. Ungewöhnliche Grabsteine – Eine Reise über die Friedhöfe von heute“ und „GAME OVER. Neue ungewöhnliche Grabsteine“ gesammelt. Dabei präsentieren sie aus etwa 30.000 Fotos die eindrucksvollsten Bilder von unterschiedlichen Gräbern.[20] Im zweiten Werk „GAME OVER“ widmen sich die Forscher im Kapitel „Fahren wir weiter“ explizit dem Automobil, jedoch fällt dieses Kapitel eher kurz aus. Ihr Fokus liegt nicht auf der reinen Dokumentation von „Auto-Gräbern“, sondern auf einer umfassenden Feldforschung zeitgenössischer Friedhöfe in Zentraleuropa. Für diesen Zweck haben sie rund 900 Begräbnisstätten besucht.[21]
Wissenschaftliche Ausarbeitungen, die sich mit „Auto-Applikationen“ auf Gräbern in Wien beschäftigen, konnten keine eruiert werden. Wobei sich Benkel und Meitzler in ihren Werken sehr wohl mit der Individualisierung des „Totenackers“[22] auseinandersetzen. Hinsichtlich dessen erachte ich es als lohnend, mich den „Auto-Gräbern“ mit einem noch höheren Detailgrad zu widmen und speziell die „Auto-Applikationen“ zu untersuchen, um an die genannten Studien aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive anzuschließen.
3. Methodisches Vorgehen
Wenn es um die Frage geht, wie Lebenswirklichkeiten, die sich mitten im Leben als „normaler“ Autofetisch darstellen, ja fast schon als Banalität gelten, am Grab etwas ungewöhnlicher sind, aber doch auf den ersten Blick trivial erscheinen, von der Gesellschaft in die Wissenschaft und umgekehrt überführt werden können, erscheint mir das Konzept von Elisa Linseisen „Techniken des Applizierens“[23] als lohnenswert. Unter dem Begriff „Applizieren“ und „Applikationen“ fallen nicht nur softwaretechnische Programme wie z. B. Apps oder Anwendungssoftware, wie Linseisen ausführt, ebenso gehören tabellarische Bewerbungsunterlagen (Application Forms), Heilbehandlungen wie das Auftragen von Cremes oder das Anbringen eines textilen Aufnähers dazu.[24] Linseisen erklärt, dass die unterschiedlichen Begriffsverwendungen jedoch eines gemeinsam haben, nämlich:
„[D]as Verhältnis einer allgemeinen, regelhaften, strukturellen, formalen und nicht auf einen spezifischen Fall eingeschränkten Bedingung, die sich dadurch auszeichnet, in verschiedenen Bereichen an- oder verwendet zu werden und gerade dann, im Singulären, als mediale Mikropolitik ihre Funktionalität und Wirkung zu offenbaren.“[25]
Dadurch lassen sich Phänomene fokussieren, die konkret und haptisch sind, vorausgesetzt sie werden als medial verstanden.[26] Nicht nur kann das Auto selbst als Medium in den Blick genommen werden, ebenfalls sind die Abbilder auf den Gräbern, sprich die „Displays der Gräber“[27], als medial zu betrachten. Für diesen Zweck findet sich in Linseisens Beitrag „Wissen transferieren, Wissen applizieren“[28] ein fruchtbares Beispiel, das sich gleichfalls auf die „Autogräber“ umlegen lässt. Sie erklärt, dass die „Applikation“ eines Stickers der Universität Paderborn (UPD) mit dem Claim „I love UPD“ auf ihrer Kleidung nichts an der Struktur ihrer Bluse ändert. Diese bekommt keinen anderen Schnitt, „wohl aber eine andere semantische wie haptische Wirkung“[29], wie etwa ein Zugehörigkeitssymbol als Mitarbeitende der Universität.[30] In diesem Sinne ist der Grabstein mit der „Auto-Applikation“ Selbstausdruck, aber genauso Ausdruck der Zugehörigkeit. Nicht nur steht das „auto-nome“ Ich im Vordergrund, sondern die Verortung des Individuums in Gemeinschaften zu Lebzeiten und darüber hinaus. Die „Auto-Displays“ sind in den meisten Fällen als Lasergravur in Grabsteine gefräst bzw. graviert oder geschliffen. Eine Fotogravur wird in der Regel auf einen Grabstein gelasert oder oberflächlich hineingeschliffen. Das geschliffene Bild lässt die künstlerische Handarbeit vom Steinmetz/ der Steinmetzin vermuten, während das mit einer Lasergravur erstellte Bild auf dem Granit wie aufgemalt aussieht – also mehr eine „Applikation“ ist. Über die Begriffsherkunft des „Applizierens“ lassen sich jedoch noch andere kulturhistorische Bezüge herstellen wie etwa religiöse, philosophische oder medizinische, die auf neoliberale Konzepte des „(banal) Alltäglichen“[31] verweisen,[32] „vor allem mit der moralischen Zielsetzung, den Alltag als ‚gutes Leben‘ zu leben“[33] bzw. im vorliegenden Fall, sich „auto-nom“ auf ein gutes Nachleben vorzubereiten. Demnach ist das Konzept des Applizierens für diese Untersuchung der rote Faden. Aus dem Vorhaben, „Auto-nome Mortalität“ zu beschreiben, ergeben sich verschiedene Herausforderungen und somit Herangehensweisen. Zunächst erachte ich es als unerlässlich, Quellenmaterial und Beispiele anhand einer Feldforschung zu sammeln, um einen ersten Eindruck von diesen Grabdarstellungen zu gewinnen. Diese Daten werden jedoch vorerst nicht Eingang in die Arbeit finden. Dennoch lege ich ein Setting in Form einer virtuellen Karte an. Zur Aufbereitung gehört es, Fotos der Gräber auf dieser virtuellen Karte zu „applizieren“ und eine fotografische Dokumentation einzelner Wegpunkte mithilfe jeweils eines zentralen Fotos und spezieller Merkmale anzufertigen. Die Karte dient in erster Linie der eigenen Orientierung. Hierfür wähle ich die Methode der Auto-Ethnografie.
Für diese Auseinandersetzung lege ich den Fokus auf die theoretische Rahmung, beispielsweise darauf, wie sich die „Auto-Gräber“ vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse unter dem Konzept der Individualisierung subsumieren lassen. Ebenso führe ich das leitende „Tool“, das Applizieren, detailliert und anhand der Gräberkultur aus und gehe auf die Funktion der „Displays“ genauer ein.
4. Grabsteine als Auto-Biografie
„Des Menschen letztes Wort ist sein Grabstein.“ [34] Conny Böttger, Bildredakteurin und freie Fotografin, und Peter Cardorff, freier Wissenschaftsautor, kommen zu dem Schluss, dass Grabsteine Selbstporträts oder „Lebens-Symbole von großer Dichte“[35] sind. Schließlich bietet ein Grabstein in der Regel nicht mehr Platz als für eine kurze Botschaft und Fotografie oder Plastik. Das Nachdenken darüber, wie ein Wunschgrab aussehen könnte, führt den Menschen unweigerlich zur Selbstbesinnung im Diesseits, postulieren die beiden. Dementsprechend drehen sich nach Böttger und Cardorff die Fragen bei dieser Selbstbesinnung darum, was einem als Mensch wesentlich ist und was mensch der Nachwelt mitteilen möchte. Möglicherweise kann ein Gang über den Friedhof Aufschluss darüber geben, wie diese Aufgabe andere zu ihrer Zeit bewältigt haben. Böttger und Cardorff beobachten aber auch, dass Grabmäler Lebenszeichen sind, die für das „Diesseits bedacht und fürs Diesseits entworfen“[36] wurden. Insofern sind Grabsteine ein „Dialogangebot“, wie es die Fotografin und der Autor ausdrücken. Damit markiert der Grabstein – der im doppelten Sinne ein „Grenzstein“ ist, weil Lebzeiten entworfen – die Möglichkeiten, schränkt aber auch ein, was die Nachwelt Sinniges oder Unsinniges über den Toten erzählen kann. Auf der einen Seite fällt den Nachkommen eventuell weniger Arbeit zu, wenn die Bestattungswünsche bereits vorgeplant sind, auf der anderen Seite ist auch das Gutdünken von Angehörigen beim Aufstellen eines Steines ausgeräumt. Doch ziehen Böttger und Cardorff noch eine weitere Grenze, nämlich in Bezug auf den „Grabstein als Denkmal“[37] oder auf „das Grabmal als Persönlichkeitskundgebung“[38] – „[…] beide bieten der Nachwelt Stätten der Erinnerung“.[39] Jedenfalls ist für Böttger und Cardorff die Differenz keine unerhebliche:
„Es ist ein Unterschied wie der zwischen Biographie und Autobiographie, Testament und gesetzlicher Erbfolge, Selbstporträt und Paßfoto. Auf ein Denkmal kann die Person, der es gesetzt wird, nicht mehr antworten. Dagegen ist ein autobiographisches Grab ein Stück höchst individueller Erinnerungspolitik in eigener Sache.“[40]
In der Tat hat die*der Verstorbene, so möchte mensch meinen, nur zu Lebzeiten etwas von ihrer*seiner Vita am Grabstein. „Leben heißt fotografiert werden und Aufzeichnungen vom eigenen Leben zu besitzen“,[41] hielt Susan Sontag fest. Als Folge dessen rührt, wer sich mit der Frage der Hinterlassenschaft beschäftigt, zugleich an zentralen Fragen der eigenen Identität und der eigenen Lebenspraxis.[42] Nachfolgend gehe ich auf den Erscheinungskörper bzw. die verschwundene Körperlichkeit ein. Für diesen Zweck nehme ich die „Auto-Fotos“ auf den Grabsteinen in den Fokus.
5. Fotoalbum Friedhof
Im Rahmen dieser Arbeit kann nur ausschnitthaft die mannigfaltige Bedeutung von Fotos für die Erinnerung an Tote beleuchtet werden. Denn „[I]innerhalb der mitteleuropäischen Memorialkultur ist das Anbringen von Fotos an Gräbern kein modernes Phänomen, sondern schon so alt wie die fotografische Technik selbst“, erläutert Matthias Meitzler.[43] Demzufolge haben wir es mit einer Praxis zu tun, die so alt ist wie die analogen Technologien der Fotografie. Diesbezüglich verweist Meitzler auf die Porzellanovale, die oft auf über hundert Jahre alten Grabsteinen am Wiener Zentralfriedhof zu finden sind – jedoch mit einer Einschränkung: „Zur Zeit des Nationalsozialismus war die individuelle Kennzeichnung der Ruhestätte unpopulär, weil darin ein Widerspruch zur damals geltenden Ideologie einer kollektivistisch geprägten Volksgemeinschaft gesehen wurde“[44], erklärt Meitzler. In der Zeit nach 1945 herrschte fürs Erste weiterhin „fotografische Abstinenz“[45] auf dem Totenacker. Erst seit den 1990er-Jahren erfreuen sich Bilder an Gräbern wieder neuer Beliebtheit – „und das mittlerweile in einer noch nicht da gewesenen Verbreitung und Ausdifferenzierung“[46], schreibt Meitzler. Folglich erinnert der Gang über den Friedhof den Kulturwissenschaftler an das Betrachten eines Fotoalbums. Selbst wenn, so ist sich Meitzler sicher, „symbolische Versinnbildlichungen“[47] von Beruf, Freizeitaktivitäten oder Lebenseinstellungen und dergleichen Essenzielles über die Verstorbenen verraten, erscheint ihm die „‚unbestechliche‘ visuelle Vergegenwärtigung“[48] doch eindeutig mehr Wiedererkennungswert zu besitzen. Er begründet dies folgendermaßen:
„Das erscheint erst recht plausibel, wenn man bedenkt, dass schon zu Lebzeiten die Einzigartigkeit eines Akteurs durch sein Gesicht evident wird. Als soziales Display liefert es im Alltag relevante Informationen über seinen ‚Eigentümer‘ und dient als primärer Adressat von Kommunikationsanliegen. Genauso wie Menschen in erster Linie an ihrem Gesicht (wieder-)erkannt werden, macht sich auch die Erinnerung an sie an ihrem Antlitz fest.“[49]
Waren es früher Porträtaufnahmen von professionellen Fotograf*innen, die die Grabsteine zierten, so sind es seit Einzug der Digitalfotografie zunehmend Alltagsschnappschüsse, die die Verstorbenen in den unterschiedlichen Lebenssituationen zeigen, wie etwa im Urlaub, beim Golfen, am Strand oder beim Autofahren.[50] Meitzler fasst diese Beobachtung wie folgt zusammen:
„Standen für die Auswahl des ‚passenden‘ Bildes früher, wenn überhaupt, nur ein paar wenige Aufnahmen zur Verfügung – Fotografieren und Fotografiert werden waren aufwändig –, muss heute in vielen Fällen aus einer kaum mehr zu überblickenden Bildfülle ausgewählt werden. Die ‚Hypervisualisierung‘ des Alltagslebens forciert, wenn man so möchte, eine weitere Multioptionalität des Totengedenkens.“[51]
Auffällig ist die Vielgestaltigkeit, die die Fotos auf den Gräbern aufweisen. Einmal sind es Porzellanovale, die ein Professionist angefertigt und befestigt hat, ein andermal wurden die Erinnerungsbilder von den Verwandten selbst ausgedruckt und provisorisch am Gedenkstein befestigt oder ein Bilderrahmen mit einer Fotografie auf der Grabplatte platziert. Die Aufnahmen unterscheiden sich in Größe und Form oder anhand ihrer Platzierung sowie in der Art der Darstellung. Manchmal ist nur der Verstorbene Teil der Szenerie, ein anderes Mal sind Familie, Freunde und Verwandte Teil der „fotografischen Applikation“. Es kann ein relativ aktuelles Foto sein oder aber ein Bild, das sich als ein mehr als 50 Jahre altes Jugendfoto erweist; „mal ist es nur ein einziges Bild, mal sind es ganze Fotocollagen, mal diente die Fotografie nur als Vorlage für eine aufwendige Steingravur und manchmal blickt dem Grabbesucher sogar ein dreidimensionales Gesicht im gläsernen Hologramm entgegen.“[52] Allerdings haben die Abbildungen Meitzler zufolge zwei Dinge gemeinsam:
„[D]ass sie mutmaßlich nicht aus dem Anlass entstanden sind, später einmal als ‚Erinnerungsanker‘ auf dem Friedhof zu dienen. Überdies zeigen die meisten Bilder weder tote noch augenscheinlich todkranke Menschen, sondern lebendige Akteure, die in dem Moment, als der Kameraauslöser betätigt wurde, wohl nicht daran gedacht haben, dass genau dieses Foto in naher oder ferner Zukunft Bestandteil ihrer eigenen Ruhstätte sein wird.“[53]
6. „Gräberdisplays“ als „Erinnerungsanker“
Als „Erinnerungsanker“[54] spielt die Fotografie für die Hinterbliebenen eine wichtige Rolle. Das Bild bzw. das Foto zieht die Betrachter*innen in seine ästhetischen, technischen und körperlichen Relationen hinein, „indem es sich als ein Lebewesen manifestiert“.[55] Anders gesagt: „Die Lebendigkeit des Bildes wird im Bildakt oder im ikonischen Prozess des Bildes – in unserem Sinne – aktualisiert.“[56] Wobei die Selbsterkenntnis und die Aktualität der Fotografie bzw. des Bildes vom Blick der Betrachter*innen abhängig sind. „Das Bild wird in der Interaktion mit dem Betrachter zu einer Realität und inszeniert die Selbstreflexion des Betrachters in einem Immersionszustand“,[57] erklärt Seung-Chol Shin Autor des Werkes „Vom Simulacrum zum Bildwesen.“[58] Dieser Raum, der von der Fotografie oder vom Bild erzeugt wird, kann als ikonischer Blickraum bezeichnet werden: „Denn bevor der Betrachter auf ein Bild trifft, ist der Blick immer schon im Bild verborgen.“[59] Ein Bild ruft damit ein Paradoxon hervor, nämlich, dass für das ewige Leben der Körper verschwinden muss – hierauf komme ich später noch genauer zu sprechen. Gemäß Hans Beltings, Kunsthistoriker und Medientheoretiker, anthropologischer Bildannäherung kreuzt sich der Tod des Körpers mit dem Beginn des Bildes.[60] Die Präsentation des Todes geschieht im Bild.[61] Der Körper, der verloren gegangen ist, wird durch ein Bild ersetzt.
„Wir bekommen paradoxerweise etwas zu sehen, das dennoch gar nicht da ist. In ähnlicher Weise findet ein Bild seinen wahren Sinn darin, etwas abzubilden, was abwesend ist und also allein im Bild da sein kann. Es bringt zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern im Bild nur erscheinen kann. Das Bild eines Toten ist also keine Anomalie, sondern geradezu der Ursinn dessen, was ein Bild ohnehin ist. Der Tote ist immer schon ein Abwesender, der Tod eine unerträgliche Abwesenheit, die man mit einem Bild füllen wollte, um sie zu ertragen.“[62]
Neben der Komplexität von Fotografien respektive Bildern auf Gräbern kann auch das Thema rund um den „Körpertod“ in dieser Semesterarbeit nur gestreift werden, doch lässt sich mit nachfolgendem detaillierten Blick auf den Körper zumindest ahnen, wie schwierig der dualistische Modellkörper für das Körperbild ist. Doch zunächst ist zu rekapitulieren, dass Meitzlers und Benkels umfassende Feldforschung detailliert darüber Aufschluss gibt, wie sich die Friedhoflandschaft verändert und dass der Totenacker in einem tiefgreifenden Wandel steckt. Doch gibt Meitzler zu bedenken, dass auch weniger sichtbare Transformationsprozesse, die über Pluralisierungseffekte von „Grabarten“[63] oder „Grabgestaltungen“[64] hinausweisen, im Gange sind. Beispielsweise dürfte die lange vorherrschende Vorstellung von „Gleichheit nach dem Tod“ allmählich Individualisierungsschüben zum Opfer fallen. Auch das Privileg, in der „geweihten“ Erde des Grabes beigesetzt zu werden – was Mörder*innen und Menschen, die Suizid begangen haben, ausdrücklich verwehrt blieb –, geht mittlerweile mit anderen stark divergierenden Bedeutungszuschreibungen und Lebensstilen einher. Will heißen: Der „klassische“ Friedhof ist nicht mehr per se der einzige Ort als Anlaufstelle der „rituellen Verlustverarbeitung“.[65] Demnach lässt sich erkennen, dass es einen Wandel in „Richtung Selbstbestimmung verändertes Trauern – und für ein verändertes Erinnerungsmanagement von Hinterbliebenen, die heute mehr als früher eigene Wege und Orte suchen und finden müssen“[66] gibt. Neben bereits erwähnten konkreten „Gestaltungsprinzipien ‚posttraditionaler‘ Ruhestätten“ taucht jedoch, wie bereits kurz erwähnt, ein weiteres Spannungsfeld auf, das Meitzler mit dem Verweis auf Benkel als „zwei Körper der Toten“[67] beschreibt. Gemeint ist zunächst einmal die Leiche, die den „ersten Körper“[68] darstellt. Sie wird „aus dem sozialen Umfeld der Hinterbliebenen ausgegliedert“,[69] um letztendlich am Ort des Begräbnisses ihre Sichtbarkeit vollständig zu verlieren.[70] „An ihre Stelle tritt nun der zweite Körper in Form eines Erinnerungskörpers, der für die Angehörigen weithin sichtbar und von sozialer Relevanz ist“.[71] Für den zweiten Körper, der die*den Verstorbene*n repräsentiert, gibt es unterschiedliche Erscheinungsformen. Einer dieser Formen ist die erwähnte Visualisierung am Grabstein. In Bezug auf diese Arbeit argumentiere ich allerdings, dass es auch noch einen „dritten Körper“ oder „Mittelkörper“ gibt – eine „(Persönlichkeits-)Prothese“,[72] die zwischen dem ersten und dem zweiten Körper, also zwischen einem selbst und der Außenwelt, vermittelt. Dieses Bild zeigt eine gewisse Selbstentfremdung, weil die Funktion einer (teilweisen) Identität bereits zu Lebzeiten an das Auto übertragen wurde. Das Auto dient jedoch nicht nur als „Verstärker“ einer individualisierten Biografie, u. a. für den Zweck eines „permanente[s]n ‚Basteln[s]‘ an der eigenen Existenz“[73]. In dieser Hinsicht stehen uns freilich allerlei Mittel für die Konstruktion und Inszenierung der eigenen Identität zu Verfügung, wie etwa das Ergreifen eines bestimmten Berufes, das Ausüben eines bestimmten Hobbys oder das Partizipieren in gesellschaftlichen Bereichen wie Vereinen usw.[74] Angesichts dessen könnte angenommen werden, dass das Basteln an der Identität mit dem Tod endet. Sondern auch stellt Meitzler fest: „Mit der leiblichen Existenz endet zwar die selbstinitiierte Existenzbastelei – unter geänderten Vorzeichen kann sie aber stellvertretend durch die Hinterbliebenen fortgesetzt werden.“[75] Demnach zeugt der Friedhof auch davon, wie Existenzen „der Bastelei durch andere ausgeliefert sind“.[76]
„Die Einrichtung, Gestaltung und Sinngebung der Grabanlage wird bekanntlich nicht von den Toten, sondern von den Lebenden vorgenommen. Sie sind es, die eine ‚abgeschlossene‘ Biografie am Grab rückblickend inszenieren. Die Bewahrung bzw. (Re-)Konstruktion einer über den Tod hinausgehenden Identität und Individualität ist in erster Linie die Angelegenheit derjenigen, für die der Tote eine soziale Bedeutung hatte – und noch immer hat.“[77]
Es ist unbestritten, dass das Automobil zum Werkzeug der „Existenzbastelei“[78] gehört, jedoch sind Autos mithin keine reinen Instrumente, Verstärker oder restaurative Prothesen der Bastelei „ante mortem“ oder „post mortem“, vielmehr sind sie Mittler oder Intermediäre. Insbesondere das moderne Auto ist nicht nur reine Kraftmaschine: Es ist Computer, Interface, datenverarbeitende Maschine, adaptives System und vieles mehr.[79] Folglich können Autos gleich in mehrfacher Hinsicht als Medien bezeichnet werden. Sie sind Transportmittel, die Verbindungen zwischen Orten schaffen, zudem fungieren sie als Medien, die den Wechsel sozialer Rollen und Ekstase- sowie Tranceerfahrungen ermöglichen.[80] Sie stehen für Lebensräume, aber genauso sind sie Objekte des Begehrens, die soziale und psychische Aushandlungen vermitteln. Zudem übertragen sie als technische Instrumente Kräfte und Kommandos. [81] Insbesondere kommt durch die Automatisierung eine weitere Dimension dazu: Autos werden zu datenverarbeitenden Maschinen, die als Schnittstelle stets im Wechselspiel eine enge Verbindung zu ihrer Umgebung pflegen. [82]
7. Drei Gräber der Toten
Meitzler erklärt, dass es wie die „zwei Körper“ ebenso „zwei Gräber der Toten“ gibt. Das „erste Grab“ sei das unter der Erdoberfläche bzw. hinter der Urnenwandplatte, also dort, wo der erste Körper, sprich der Leichnam, verwahrt bleibt.[83] Das „zweite Grab“ sei der oberirdische, sichtbare und gestaltbare Teil, der für die Hinterbliebenen demzufolge „relevanter“ ist.[84] In Verbindung mit dem „dritten Körper“ gebe es ein „drittes Grab“ bzw. eine dritte „Funktion“. Immerhin haben alle monotheistischen Religionen im Prinzip ein dreigeteiltes Weltbild in vertikaler Reihung. Die Grundidee ist demnach ein Gott als höchster und transzendenter Ursprung, der die gesamte Schöpfung, die sich wiederum reflexiv auf die „obere“ geistige Welt hin ausrichtet, hervorgebracht hat.[85] Es gibt die Himmelssphäre, in der sich das Göttliche wahrnehmen lässt, eine irdische Welt, die auf rational-logische Weise erfahrbar ist, und eine dunkle Unterwelt ohne Licht, Farben und göttlichen Glanz.[86] Grundsätzlich reichen die Vorstellungen der Unterwelt von:
„[e][E]motionslosen passiven Schattenwelten, deren monotone Akustik und Optik in Trance verfallen lassen, zu exzessivem Auftreten der Elemente, wie zerklüfteten Landschaften, Sintfluten, Wirbelstürmen und unüberschaubaren Flächenbränden, dazu ausersehen, das Leben in seiner Vielfalt zu vernichten, aber ebenso neu zu erschaffen.“[87]
An dieser Stelle ist hinzuzufügen, dass in diesem Rahmen und auch darüber hinaus – abgesehen von einer Vorstellung – nicht beantwortbar ist, wie und ob wir den Tod überleben, ob wir wiederkehren, ob wir mit denjenigen, die vor uns gegangen sind, wieder vereint oder ob unsere irdischen Taten im Himmel belohnt bzw. in der Hölle bestraft werden. Genauso wenig wissen wir, ob nach unserer körperlichen Existenz auch dem Geist oder der Seele für immer das Licht ausgeht. Abgesehen davon gibt es unterschiedliche Erzählungen in Bezug auf „Endzustände“, z. B. wann unser Leben – vorausgesetzt es geht weiter – weitergeht, also unmittelbar oder erst, wenn die (Erd-)Geschichte endet und Christus wiederkehrt. Speziell in diesem Jahrhundert sind die Abstände „zwischen dem Hier und der Ewigkeit, dem Jetzt und dem Dann, den Tatsachen und der Fiktion, dem Wörtlichen und Metaphorischen, dem Religiösen und Magischen, dem Rationalen und Imaginären“[88] unklar, erklärt Philip C. Almond, Professor Emeritus und Professorial Research Fellow am Institute for Advanced Studies in the Humanities der Universität Queensland. Er bringt die Komplexität gut auf den Punkt:
„Die moderne Welt ist eine Welt mannigfaltiger Sinngehalte, verzauberter und entzauberter. Wir können beides tun: eine verzauberte und eine entzauberte Welt bewohnen, in einer säkularen und einer sakralen Geschichte leben, in der Welt dieses Lebens und in der des nächsten, und zwar der Muße halber, um des Vergnügens willen oder mit äußerstem Ernst. Glaube kann ergriffen und Unglaube freudig und willig außer Kraft gesetzt werden.“[89]
Die Vorstellung, eine Seele zu besitzen, kann somit abgelehnt werden, wahrscheinlich sind auch Paradies- und Jenseitskonzepte entbehrlich und ebenso wenig ist die Vorstellung von Gottheiten erforderlich. Diese Auffassungen gelten jedoch nicht für den Körper.[90] Denn einen Menschen ohne Körper gibt es nicht, da menschliche Körper zu den organischen Massen zählen und, wie Benkel und Meitzler es formulieren, „die Eigenschaft an sich [haben], dass sie an jenen Punkt geraten, an dem ihnen die Kriterien der Lebendigkeit aufgrund biologischer Abläufe abhandenkommen.“[91] Mit eintretendem Tod wird der menschliche Körper zu einem unbeweglichen Bild, das nur noch entfernt an den lebenden Körper erinnert. „Er ist nicht mehr Körper, sondern nur noch das Bild eines solchen“,[92] diagnostiziert Belting. Die Hinterbliebenen reagieren, so Belting, auf diese bestürzende Erfahrung mit der Vorstellung, dass „… mit dem Leben auch die Seele den Körper verlassen habe“.[93] Belting beschreibt diese Erfahrung folgendermaßen:
„Der Schrecken des Todes liegt darin, daß sich vor aller Augen und mit einem Schlage in ein stummes Bild verwandelt, was gerade noch ein sprechender, atmender Körper gewesen war. Dazu noch in ein unverläßliches Bild, das sich in kurzer Zeit aufzulösen beginnt. Die Menschen waren hilflos der Erfahrung ausgeliefert, daß sich das Leben, wenn es stirbt, in sein eigenes Bild verwandelt. Sie verloren den Toten, der am Leben der Gemeinschaft teilgenommen hatte, an ein bloßes Bild.“[94]
Eine mögliche Reaktion der Hinterbliebenen auf den Tod könnte sein, dass sie auf diesen Verlust antworten „indem sie ein anderes Bild herstellten: ein Bild, mit dem sie sich den Tod, das Unverständliche, auf ihre Weise verständlich machten“.[95] Vor diesem Hintergrund sind die „Auto-Bilder“ am Grab als Doppelagenten zu begreifen: „Medium und Kontermedium der Menschenpräsentierung bzw. Menschenabsentierung.“[96]
Eine weitere Reaktion ist all die Dinge, die mensch womöglich lieber vergessen möchte, in die Unterwelt zu verschieben, an einem Platz, wo sie aus dem Blickfeld des Alltags verschwinden. Zugleich erhofft mensch sich davon, die Unterwelt erfülle ihren Zweck, ohne dass es nötig sei, sich länger mit ihr auseinanderzusetzen. In modernen Städten sorgen Kanäle, U-Bahn-Schächte u. v. a. m. für den reibungslosen Ablauf des Lebens über Tag. Die unterirdischen Abwasserkanäle als moderne Entsorgungsstätten sind hingegen Quelle von Abscheu und Ekel und entsprechen damit der Vorstellung einer dämonisierten Unterwelt.[97] Unter anderem lässt sich diese Dämonisierung auf althergebrachte Bestattungsrituale zurückführen, „bei denen die Toten unter dem Erdboden — also unterhalb jener Welt, in der die Verstorbenen gelebt haben — beigesetzt werden.“[98] Zum einen wurden sie dort „(hygienisch) entsorgt“,[99] zum anderen „dem finsteren und chaotischen Anfang zurückgegeben“.[100] Die moderne Disziplin der Psychoanalyse lehrt uns außerdem, dass das einen intakten Ablauf der Unter-, Ober-, Innen- und Außenwelt voraussetzt.[101]
8. Bild im Körpermedium
In einer Gesellschaft, die vom Automobil geprägt ist und als mobilisierte Gesellschaft gilt,[102] verwundert es nicht, dass auch Sterben und Tod zu einer Angelegenheit des Automobils werden. Demnach ist der Weg in den Tod mit Metaphern rund um das Auto gepflastert. So begibt sich jeder Mensch irgendwann mal auf seine „letzte Fahrt“ und wird in der Regel zum Grab mit dem „Leichenzug“ gebracht und überhaupt: Das Leben, wie die Bibel bekundet, „fähret schnell dahin, als flögen wir davon“.[103] Doch fügt die moderne Technologie dem Verkehrswesen noch weitere „Verkehrsrichtungen“ zu. In der Fotocollage „Der rasende Reporter“ (1926) stellt der „Bauhaus-Fotograf“ Umbo (Otto Umbehr, 1902–1980) die Journalistenlegende Egon Erwin Kisch als hybriden Superreporter dar: Es ist eine Metapher für den modernen multifunktionalen Menschen in den beginnenden 1920er-Jahren. Als eine Art Mischwesen hat er einen Fuß im Auto und den anderen im Flugzeug. Seine Sinne werden durch Schalltrichter und Kameras verstärkt und der Unterleib ist mit einem seismografischen Gerät ausgestattet. Der Körper ähnelt dem eines Kentauren oder eines Cyborgs, der von allerlei Mechanismen und Medien gestützt, unterstützt und ergänzt wird. Auch der italienische Futurismus ließ keine Zweifel an der Dynamik moderner Technologie. Im auf der Titelseite des Le Figaro veröffentlichten Manifeste du futurisme hört Filippo Tommaso Marinetti (1909) nicht nur unter den „Fenstern das Aufbrüllen hungriger Autos“,[104] ebenso verschmelzen für ihn Leib und Maschine:
„Los sagte ich, los, Freunde! Gehen wir! Endlich ist Mythologie, ist das mystische Ideal überwunden. Wir werden der Geburt der Kentauren beiwohnen und bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen.“[105]
Eine weitere Passage, in der von einer Form eines nicht natürlichen Initiationsaktes berichtet wird, ist:
„[…] Ich streckte mich in meinem Wagen wie ein Leichnam auf der Bahre aus, aber sogleich erwachte ich zu neuem Leben unter dem Steuerrad, […].“[106]
Marinetti kündigt in diesen Absätzen die Symbiose von Mensch und Maschine in der industrialisierten Metropole an. Nach einer schnellen, ekstatischen, rauschhaften Fahrt im eigenen Auto ereignet sich ein schicksalhafter Unfall: Marinetti verschmilzt mit seinem Fahrzeug zu einer neuen Kreatur. Es ist ein Ideal einer unsterblichen Mensch-Maschine, die Marinetti wie folgt beschreibt:
„Mit Hilfe der Intuition werden wir die scheinbar unbeugsame Feindschaft besiegen, die unser menschliches Fleisch vom Metall der Motoren trennt. Nach dem Reich der Lebewesen beginnt das Reich der Maschinen. Durch Kenntnis und Freundschaft der Materie, von der die Naturwissenschaftler nur die physikalisch-chemischen Reaktionen kennen können, bereiten wir die Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN vor. Wir werden ihn vom Todesgedanken befreien, und folglich auch vom Tode, dieser höchsten Definition logischer Intelligenz.“[107]
Demzufolge wird der transzendentale Körper vom „Todesgedanken“ und sogar vom „Tod“ befreit. So sind auch die „Auto-Gräber“ zu lesen, die die Nekropole als abschließende Station eines motorisierten Lebens wahrnehmen, als ein „Reich nach dem Lebewesen“ bzw. als ein „Reich der Maschinen“. Das bedeutet, dass die Grundlage für den transzendentalen Körper, der das ewige Leben garantiert, die Prothese und die Bildwerdung des Körpers bilden. Daraus folgt, dass der Körper zum Medium des Bildes wird, da das Bild im Körper entsteht,[108] denn durch die „Auto-Prothese“ wird der Körper als ein Bild transfiguriert. Wie bereits erwähnt wird einerseits dem Körper mithilfe des Bildes erneut das Leben verliehen, andererseits gibt es, wie Belting aufzeigt, eine Bildpraxis, die die Kette von Körper-Tod-Bildern ausklammert. Der Körper wird direkt zum Bild, und zwar wie es Sin mit Verweis auf Belting beschreibt zum „bloßen Vertreter des Körpers, sondern Körper selbst“.[109] Damit ist das Verhältnis nicht als „Leib-Seele-Verhältnis“, sondern als „Leib-Bild-Verhältnis“ beschreibbar.[110] Insofern begreift Belting den menschlichen Körper als „Ort der Bilder“.[111] Das bedeutet, dass der Leib des Menschen zuerst als Bild im Sinne eines Peirce’schen Icons erscheint.[112] Diesbezüglich erweckt das Bild bzw. das „Auto als Prothese“ eine völlig neue Bildpraxis, nämlich die Produktion des Bildes im Körper oder die des Körpers-Bildes. Damit verweisen die „Auto-Vermächtnisse“ als „Prothesen“ oder „mittlere Körper“ auf eine völlig neue Ordnung, nämlich auf den Menschen als Zwittercharakter, ein Mischwesen aus Mensch und Maschine: Das Auto als „Prothese“ erlaubt in seiner technischen Erweiterung, biologisch gegebene Grenzen zu überschreiten – doch nur, wenn alles wie geschmiert läuft, ist an dieser Stelle hinzuzufügen. Wie bereits erwähnt, lehrt die moderne Disziplin der Psychoanalyse, dass das einen intakten Ablauf der Ober- bzw. Außenwelt benötigt. Diesbezüglich muss ich nun ein wenig ausholen. Denn kam früher dem Oben und dem Unten noch die gleiche Wertung zu, so „überholte“ der „nachhaltige prägende manichäistische Dualismus, der seine gesamte Lehre auf einer moralischen Unterscheidung zweier Urprinzipien, des Guten einerseits und des Bösen andererseits, aufbaut“,[113] schon bald derlei Konzepte. Engel und dämonische Wesen wurden nach „unten“ gesandt, um dort die Finsternis zu bekämpfen und harren seither in der Unterwelt auf die rettende Emporführung.[114] Denn allmählich rückt die Gerechtigkeit in den Blickpunkt und mit der „Forderung nach sittlichem Verhalten Gott und den Menschen gegenüber entwickelt sich ein neues religiöses Empfinden“.[115] Das hat zur Folge, dass die Prägung des antiken Hades zurücktritt und sich in die himmlische Belohnung für die Gerechten und einen „Strafort“ für Sünder*innen und Ungläubige aufspaltet. Installiert werden in dieser Anschauung Reihe und Wertung und das „macht somit erst eine Aufwärts- bzw. Abwärtsbewegung (Ascensus und Descensus) möglich“.[116] Diese Spaltung beschreibt Gabriele Groschner, Kuratorin und Kunstvermittlerin, folgendermaßen:
„Das Ineinandergreifen der Welten weicht mehr und mehr einer klaren Separierung, die – wenn überhaupt – nur Übertritt an speziellen (jetzt meist geheimen) Schwellen ermöglicht. Dies präzisiert die Vorstellung einer Gegenwelt als unbekannte Größe, und damit eine Spaltung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, zwischen Moral und Instinkt, und zwischen Vernunft und Magie.“[117]
Infolgedessen sind in vielen Fällen Jenseitsreisen ausschließlich für die Seele möglich, der Körper bleibt zurück.
9. Charon als Wiener Straßenbahner
Den Menschen gelingt es, sich mit der „Auto-Prothese“ dem grundlegenden dualen Entweder-oder zu entziehen. Der menschliche Körper als „Cyborg“ verstärkt den Ausdruck der Präsenz, dass es nebeneinander zwei existierende Wirklichkeiten gibt und unterstreicht damit den Übertritts- bzw. Schwellencharakter. Beispielsweise sind die Gewässer der griechischen Unterwelt Styx, Kokytos und Acheron nicht Grenzlinien zwischen Diesseits und Jenseits, vielmehr sind sie Schwellen bzw. Räume des Übergangs, die mit zwei Teilen derselben Welt in Beziehung stehen. Befahren werden diese Gewässer von dem laut Vergil lecken und rostigen Kahn des Charon. Im altgriechischen Jenseitsglauben ist Charon als Fährmann dafür verantwortlich, seine Fahrgäste, sprich die Seelen der Verstorbenen, sicher über den Totenfluss zu bringen und sie in das Reich des Hades (der Herrscher der Unterwelt; auch Pluto genannt) zu überführen. Seine Spur reicht als in Fragmenten überliefertes Gedicht namens Minyas literarisch bis in das 6./7. Jahrhundert v. Chr. zurück und damit in die Zeit des epischen Zyklus.[118] Homer erwähnt nur die Gewässer, doch Aischylos bereits ein Totenschiff. Als vor allem literarisch bezeugte Figur sind Name, Herkunft und Funktion Charons nicht völlig geklärt – so soll es nach Pausanias’ Ausführungen mehrere konkurrierende Konzepte des Fährmanns gegeben haben. Auch wird er mit Tiergestalten in Verbindung gebracht (insofern auch ein Mischwesen) und in einer Sage mit dem Teufel, der die Toten mit seinem Kahn in die Hölle seiner Großmutter bringt, verbunden[119]. Jedenfalls hat die frühchristliche Legende den mythischen Fährmann bewahrt: Unerkannt fährt Christus höchstpersönlich die Apostel Andreas und Matthias in das Land der Menschenfresser.[120] Auch Paulus wird in einem ägyptischen Legendenmärchen auf das Meer gefahren, um in die Unterwelt zu gelangen. Zunächst werden die Verstorbenen aber von Hermes als Totenbegleiter geführt. Sie erreichen als blutleere Schattenwesen die Anlegestation.[121] Charon, nicht selten als düsterer, grimmiger Geselle dargestellt, bringt sie mit einem kleinen Nachen oder Weidling an das andere Ufer – ein Ufer, von dem es kein Zurück mehr gibt. Jedoch nur, sofern die Toten nach Brauch bestattet wurden und das (Fähr-)Geld (Obolus genannt) unter der Zunge bei sich tragen.[122] Verweigert Charon die Überfahrt, müssen die Abgewiesenen ewig an den Ufern des Unterweltstroms klagen. Tatsächlich wird bereits in einer der ältesten und bekanntesten Dichtungen der Menschheit, im Gilgamesch-Epos, von der Suche des sumerischen Königs Gilgamesch (regierte etwa 2652−2602 v. Chr.) berichtet, der vom Fährmann Ur-šanabi über die Gewässer des Todes gebracht wird.[123] Im ägyptischen Totenbuch bringt der Maa-ha-f, „der sieht, was hinter ihm ist“[124], den Pharao nach seinem irdischen Tod wieder zurück zu seinen Ahnen. In der nordischen Mythologie ist es Odin als Fährmann namens Hárbarðr („Graubart“), der seinem Sohn Thor eine Lehre erteilt. Dementsprechend fand der Fährmann stets Eingang in die Kunst, wie etwa in Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ (14. Jahrhundert) der Fährmann Phlegias, der Dante und Vergil über das Totengewässer bringt. In den 1950er-Jahren wird das Motiv Vorbild für Salvador Dalis „Der Nachen mit dem Engel als Fährmann“ in seiner Serie zur „Göttlichen Komödie“. In der 25. Aventiure des Nibelungenlieds ist es Hagen, der den unwilligen Fährmann erschlägt, um das Burgunderheer selbst über die Donau zu führen und anschließend die Fähre zu zerstören, damit niemand in die Heimat zurückkann.[125] Kurzum: Ein Reich der Toten oder der Seligen hinter einem (schwer zugänglichen) Gewässer ist eine weltweite Vorstellung.[126] Insofern lässt sich postulieren, dass dem Fährmann im Dies-, aber auch im Jenseits eine wichtige Rolle zukommt. Allerdings liefert die mythische Gestalt oft nur unscharfe Konturen.[127] Zusammenfassend ist zu folgern, dass Charon mit den Jahrhunderten immer stärker in die Richtung von Parasit*innen und Betrüger*innen gerückt wird.[128] Doch haben Erzählungen rund um den Fährmann bereits in der Antike unterschiedliche Möglichkeiten präsentiert, sich literarisch zu entwickeln. Beispielsweise boten Komödie und Satire einen geeigneten Rahmen, um Charon als einen schillernden Charakter zu zeigen. Der österreichische Philosoph Gerald Raunig beschreibt Charons Wesen in Aristophones’ „Fröschen“ folgendermaßen:
„[…] Schon der Auftritt des Fährmanns ist in ein alternatives Unterweltsetting eingebettet: Hinter der Bühne gibt Kapitän Charon noch Kommandos an eine Mannschaft, die sich dann, wenn Charon und sein Kahn auf der Bühne erscheinen, als nicht existent erweist. Auf Dionysos’ Wortspiel mit einem dreifachen Chaire, Charon, das mit dem Hinweis auf die (falsche) Etymologie seines Namens den Fährmann gnädig stimmen soll, leiert Charon geschäftsmäßig seine Stationen herunter, mehr barscher Schaffner als gottähnlicher Dämon. Eine grobe Aufforderung zur Eile und die Ablehnung, den Sklaven Xanthias, den Burschen Dionysos’, mitzunehmen, verstärken die Wirkung des grantelnden Charakters, Typus Wiener Straßenbahner. Wenn Charon den Sklaven anherrscht, er möge sich packen und um den Acheron, der hier als Froschtümpel karikiert erscheint, herumlaufen, spitzt sich die Komik in der Vorstellung einer Alternativroute in die Unterwelt zu. All das gipfelt in der strengen Aufforderung an Dionysos, gefälligst die Ruder in die Hand zu nehmen. Der wehrt sich und meint, als Laie und Landratte habe er keine Ahnung von der Seefahrt, worauf Charon ihm hinterhältig die schönste Musik verspricht, wenn er sich nur richtig ins Zeug legt. Daß diese Belohnung im Quäken der Frösche besteht, die noch dazu in Charons Ausbeutungsmaschinerie die Funktion haben, durch ihre Rhythmik den Ruderer zu mehr Effizienz zu bringen, mündet in einen Agon der Lautstärke zwischen dem ‚wohltönenden‘ Chor der Frösche und einem physische und psychische Qualen erleidenden Dionysos: ‚Ich will quaken, bis ich euch mit eurem eignen Koax mundtot gemacht habe!‘“[129]
Es präsentiert sich uns demnach nicht etwa ein Bild eines grausigen Wächters, der eine Hölle wie sein Nachbar Kerberos okkupiert, vielmehr tritt Charon als Mittler und Helfer auf. Oder um es mit den Worten Raunigs auszudrücken: „Charon surft die stygische Welle. Er ist damit nicht Personifikation der schroffen Grenzen, sondern Personifikation des Übergangs.“[130] Doch wie Aristophanes’ hinweist lässt sich Charon nicht auf ein „selbstloses Helfertum“ reduzieren, schließlich bezahlen seine Fahrgäste die Überfahrt und immerhin ermuntert er fleißig zur Selbsttätigkeit. Vor diesem Hintergrund kann mittels Charon eine Parallele zur Moderne gezogen werden, insbesondere wenn wir an das „autonome Fahren“ denken. Diese Fahrzeuge haben „keine Fahrer*innen“, sondern nur „Passagiere“, sofern und solange das System läuft, ansonsten muss vom Passagier eingegriffen werden. Womöglich lassen uns dann auch sprachliche Assistenzsysteme zum quakenden Dionysos mutieren.
10. Human readable interfaces: Auto-Applikationen auf Gräbern
Das Interface im Auto, das Jan Distelmeyer, Medienwissenschaftler, als „fünftes Fenster (nach jenen zur Seite, nach vorne und nach hinten)“[131] bezeichnet und das für Fahrer*in, Fahrzeug und Fahren buchstäblich zentral geworden ist, hat vielerlei Funktionen. Beispielsweise ist bei Tesla dieses User Interface (UI) ein 15–17 Zoll großes Display in der Mittelkonsole, ein „dashboard touchscreen“.[132] Mittels Touchscreen lassen sich alle Angaben zum Status und Verhalten des Fahrzeugs überblicken überblicken und es können damit Klimaanlage, Scheinwerfer, Heizung usw. eingestellt werden. Außerdem dient das UI bzw. das Display zur Kopplung mit dem Smartphone und sorgt für die Steuerung der womöglich essenziellsten Funktion des Autos: der Geschwindigkeit. Distelmeyer beschreibt den Monitor wie folgt:
„Dieses Interface zur Steuerung ist also eine spezielle Art Fenster zu einem programmatischen ‚Innen‘ – genauer: zur internen Darstellung und Steuerung dessen, was das System des ADM [Anm: algorithmically controlled, automated decision-making]-bewährten und sensorbestückten Computer-Fahrzeugs von ‚sich‘ und seiner Umgebung simulierend und operativ vermittelt. Darum ist es gerade die gleichzeitige Präsenz der verschiedenen Fenster (des Fensters zum programmatischen ‚Innen‘ und jener zum umweltlichen ‚Außen‘), dank der die Steigerung von Kontrolle (zunächst als Verdopplung) möglich und ablesbar wird.“[133]
Interfaces ermöglichen es Computern, miteinander verbunden zu sein und Beziehungen zu Menschen, anderen Maschinen und anderen Teilen der Welt außerhalb des Computers herzustellen. „Sie stellen Verbindungen her und stiften Vermittlung zwischen Hardware und Hardware, Software und Hardware, Software und Software sowie zwischen diesen Hardware-Software-Verhältnissen und all dem, was kein Computer ist.“[134] Von User-Interfaces kann jedoch nur dann gesprochen werden, wenn diese z. B. mittels Touchscreens die Geschwindigkeitssteuerung ermöglichen. Das heißt, ein UI ermöglicht die Interaktion eines Menschen mit dem System, dazu zählen aber genauso das Lenkrad, die Pedale oder der Schalthebel. Neben dem UI gibt es weitere Applikationen wie das API (Application Programming Interface). Ein API gewährt anderen Systemen Interaktionen; anders als ein UI als human readable interface bildet ein API ein machine readable interface.[135] Damit sind autonome Autos z. B. mit Entertainment- und Kommunikationsangeboten verknüpft und bilden Schnittstellen „zwischen Unterhaltung, Ablenkung und Medienpraktiken“.[136] Autonome Autos verknüpfen aber auch Daten wie Bewegungsdaten oder Extension des Smart Homes u. v. a. m.[137] Auf der einen Seite erinnert das automatisierte Fahren an Charons „Gefahrenwerden“, auf der anderen Seite steht das Auto als data engine[138] für vernetztes Fahren. Doch die Qualität des Innenraums besteht vor allem darin, „sich aus dem Verkehrsgeschehen noch mehr herauszunehmen“[139] – das unterscheidet es dann zum mitunter vollen Kahns Charons. Julia Bee schildert das Herausnehmen aus dem Verkehrswesen wie folgt:
„Durch die Abkoppelung und Autonomisierung geht möglicherweise nicht nur – bedingt durch die Vision des Gefahren-Werdens – ein Verlust von (männlicher) Handlungsmacht, sondern auch ein möglicher Distinktionsgewinn einher. Es kann ein Luxus sein, sich aus der – unter Umständen durch die eigene Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Auto – mitverursachten Verkehrsmisere herausnehmen zu können. Fahren wird so eine Art ‚Rest‘, den es für diejenigen zu bewältigen gilt, die es sich nicht leisten können, ihn zu umgehen. Denn genau das unübersichtliche Verkehrsgeschehen kann potentiell durch privatisiertes Gefahren-Werden ausgeblendet werden: Es ist kein Hindernis mehr, ins Auto zu steigen. […] Denn Automatisierung bedeutet den Luxus, sich aus dem Verkehr als multimodalem und sozialem Geschehen zu entkoppeln.“[140]
Damit beschließe ich diese Semesterarbeit, denn die Schnittstellen respektive Applikationen finden sich in Fortführung auf den „Auto-Gräbern“ wieder. Wie zu Beginn geschildert, gehen die „Auto-Gräber“ mit einer „Privatisierung bzw. Individualisierung“ des öffentlichen Raums, aka Friedhofs, einher. Ferner sind die „Gräber-Displays“ als Applikationen oder Fenster in das „Innere“ zu lesen, die nicht nur das „Leib-Bild-Verhältnis“ neu fokussieren, sondern als „Display-Applikationen“ dafür sorgen, das eigene Gefährt im Falle des Falles aus „Charons Verkehrsmiseren“ rauszusteuern und gleichzeitig das vielleicht vordringlichste Versprechen, nämlich die Vision eines autonomen „ins Reich der Maschinen Gefahren-Werdens“, auszustellen.
[1] Thomas Pospiech, Alles über Autos, München: riva 2012, S. 428.
[2] Vgl. Pospiech, Alles über Autos, S. 428.
[3] Vgl. ebd.
[4] Vgl. ebd.
[5] O. A., „Neue Fahrzeuge für die Bestattung Wien: Von elektrisch bis luxuriös“, Vienna Online, 16. 04. 2014, https://www.vienna.at/neue-fahrzeuge-fuer-die-bestattung-wien-von-elektrisch-bis-luxurioes/3931505, 13. 11. 2022.
[6] Vgl. Pospiech, Alles über Autos, S. 429.
[7] Vgl. ebd.
[8] Vgl. ebd.
[9] Death at a Funeral, R.: Franz Oz, UK / DE / US, 2007, TMC: 00:00:06.
[10] Vgl. Pospiech, Alles über Autos, S. 429.
[11] Roland Barthes, „Der neue Citroën“, Mythen des Alltags, Berlin: Suhrkamp 32015, S. 196–198, hier: S. 196.
[12] Barthes, „Der neue Citroën“, S. 196 (Hervorhebung in Original).
[13] Vgl. Thorsten Benkel / Matthias Meitzler, Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe. Ungewöhnliche Grabsteine – Eine Reise über die Friedhöfe von heute, Köln: Kiepenhueer & Witsch 2014, S. 7.
[14] Benkel / Meitzler, Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe, S. 7.
[15] Weiterführende Literatur siehe auch: Thorsten Benkel, Die Zukunft des Todes. Heterotopien des Lebensendes, Bielefeld: transcript 2016.
[16] Matthias Meitzler, „Im Gleichschritt mit dem Zeitgeist: Die Individualisierung der Sepulkralkultur“, OHLSDORF – Zeitschrift für Trauerkultur Ausgabe Nr. 136, I, 2017, Februar 2017, https://fof-ohlsdorf.de/136s23_meitzler, 15. 11. 2022.
[17] Meitzler, „Im Gleichschritt mit dem Zeitgeist“, 15. 11. 2022.
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] Vgl. Benkel / Meitzler, Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe, Klappentext.
[21] Vgl. Thorsten Benkel/ Matthias Meitzler, GAME OVER. Neue ungewöhnliche Grabsteine, Köln: Kiwi 2016, S. vi (E-Book Version)
[22] Benkel / Meitzler, GAME OVER, S. vi (E-Book Version)
[23] Elisa Linseisen, „Wissen transferieren, Wissen applizieren. Für eine Mikropolitik des Anwendens und Zueignens“, Wissenstransfer. Aufgabe, Herausforderung und Chance kulturwissenschaftlicher Forschung, hg. v. Anda-Lisa Harmening / Stefanie Leinfellner, Darmstadt: wbg Academic 2022, S. 297–322.
[24] Vgl. Linseisen, „Wissen transferieren, Wissen applizieren“, S. 310.
[25] Ebd.
[26] Vgl. ebd.
[27] Meitzler, „Im Gleichschritt mit dem Zeitgeist“, 15. 11. 2022.
[28] Linseisen, „Wissen transferieren, Wissen applizieren. Für eine Mikropolitik des Anwendens und Zueignens“, S. 297–322.
[29] A. a. O., S. 311.
[30] Vgl. ebd.
[31] Elisa Linseisen, „Wissen transferieren, Wissen applizieren. Für eine Mikropolitik des Anwendens und Zueignens“, S. 311.
[32] Vgl. ebd.
[33] Linseisen, „Wissen transferieren, Wissen applizieren“, S. 311.
[34] Conny Böttger / Peter Cardorff, Mein letztes Wort. Der Grabstein als Visitenkarte, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2009, S. 7.
[35] Böttger/ Cardorff, Mein letztes Wort. Der Grabstein als Visitenkarte, S. 7.
[36] A. a. O., S. 8.
[37] Böttger/ Cardorff, Mein letztes Wort. Der Grabstein als Visitenkarte, S. 8.
[38] A. a. O., S. 9.
[39] Ebd.
[40] Ebd.
[41] Susan Sontag, „Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos. Die Folter der Gefangenen ist keine simple Verfehlung“, Süddeutsche Zeitung, Nr. 118, 25. 04. 2004, S. 13.
[42] Vgl. Böttger/ Cardorff, Mein letztes Wort. Der Grabstein als Visitenkarte, S. 9.
[43] Matthias Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, Postexistenzielle Existenzbastelei, Bielefeld: transcript, 27.08.2016, S. 133–162, hier S. 146.
[44] Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, S.146.
[45] Ebd
[46] Ebd.
[47] Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, S.146.
[48] Ebd.
[49] Ebd.
[50] Vgl. a. a. O., S. 147.
[51] Ebd.
[52] Ebd.
[53] Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, S.147.
[54] Ebd.
[55] Sueng-Chol Sin, Vom Simulacrum zum Bildwesen. Ikonoklasmus der virtuellen Kunst, Wien/ New York: Springer 2012, S. 20.
[56] Sin, Vom Simulacrum zum Bildwesen, S. 20.
[57] Ebd.
[58] Ebd.
[59] S. 20.
[60] Hans Belting, Bild-Anthropologie, München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 29–65.
[61] Vgl. a. a. O., S. 99f.
[62] A. a. O., S. 144.
[63] Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, S.142 (Hervorhebung in Original).
[64] Ebd. (Hervorhebung in Original).
[65] A. a. O., S. 144
[66] Ebd.
[67] A. a. O., S. 148 (Hervorhebung in Original).
[68] Ebd.
[69] Ebd.
[70] Vgl. ebd.
[71] Ebd.
[72] Brigitte Marschall, Seminar „Inszenierungsformen und ästhetische Wahrnehmung“ – Auto-Rituale und Todesprozessionen“, 11. 01. 2023, Universität Wien Institut Theater-, Film- und Medienwissenschaft; siehe auch: Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extension of Man, Cambridge/MA, London: MIT Press 1994.
[73] Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, S.133.
[74] Vgl. a. a. O., S. 148.
[75] Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, S. 148.
[76] Ebd. (Hervorhebung im Original).
[77] Ebd.
[78] Ebd.
[79] Vgl. Florian Sprenger (Hg.), „Autonome Automobilität. Eine medien- und kulturwissenschaftliche Einführung“, Autonome Autos. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Zukunft der Mobilität, Bielefeld: transcript 2021, S. 9–84, S. 18.
[80] Vgl. Sprenger, Autonome Autos, S. 19.
[81] Vgl. ebd.
[82] Vgl. ebd.
[83] Vgl. Meitzler, „Postexistenzielle Existenzbastelei“, S. 149.
[84] Vgl. ebd.
[85] Gabriele Groschner, „Seelenbegleiter und Jenseitsreisende“, Einmal Unterwelt und zurück: die Erfindung des Jenseits, hg. v. Thomas Habersatter/ Astrid Ducke/Gabriele Groschner, S. 168–191, hier: S. 169.
[86] Vgl. Groschner, „Seelenbegleiter und Jenseitsreisende“, S. 169.
[87] Ebd.
[88] Philip C. Almond, Jenseits. Eine Geschichte des Lebens nach dem Tode, London: Lambert Schneider 2016, S. 208.
[89] Almond, Jenseits. Eine Geschichte des Lebens nach dem Tode, S. 209.
[90] Vgl. Thorsten Benkel / Matthias Meitzler, „Einleitung: Nicht-Leben und Nichtwissen. Bemerkungen zur Nichterfahrbarkeit des Todes“, Körper | Kultur | Konflikt, Baden-Baden: Nomos 2021, S.7–14, hier: S. 10.
[91] Benkel / Meitzler, „Einleitung: Nicht-Leben und Nichtwissen“, S. 10.
[92] Hans Belting, Bild-Anthropologie, München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 145.
[93] Ebd.
[94] Ebd.
[95] Ebd.
[96] Walter Seitter, „Möbel als Medien. Prothesen, Paßformen, Menschenbildner. Zur theoretischen Relevanz Alter Medien“, Mediale Anatomien : Menschenbilder als Medienprojektionen, hg. v. Annette Keck et. al., Bielefeld: transcript 2015, S. 183.
[97] Vgl. Gabriele Groschner, „Seelenbegleiter und Jenseitsreisende“, S. 169.
[98] Ebd.
[99] Ebd.
[100] Ebd.
[101] Vgl. ebd.
[102] Vgl. Sprenger, Autonome Autos, S. 20.
[103] Psalm 90, 10.
[104] F. T. Marinetti, Manifest des Futurismus, 1912, zitiert nach Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte. Ästhetik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993, S. 75, (Hervorhebung im Original).
[105] Ebd.
[106] Ebd.
[107] F. T. Marinetti, Manifest des Futurismus, 1912, zitiert nach Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte. Ästhetik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993, S. 288, (Hervorhebung im Original).
[108] Vgl. Sin, Vom Simulacrum zum Bildwesen, S. 84.
[109] A. a. O., S. 68
[110] John M. Krois, Bildkörper und Körperschema, Berlin: De Gruyter 2012, S. 298.
[111] Belting, Bild-Anthropologie, S. 57.
[112] Vgl. Krois, Bildkörper und Körperschema, S. 298.
[113] Groschner, „Seelenbegleiter und Jenseitsreisende“, S. 169.
[114] Vgl. ebd.
[115] A. a. O., S. 170.
[116] Vgl. Groschner, „Seelenbegleiter und Jenseitsreisende“, S. 170.
[117] Ebd.
[118] Vgl. Günther E. Thüry, Die antike Münze als Fundgegenstand. Kategorien numismatischer Funde und ihre Interpretation, Oxford: Archaeopress 2016, S. 96
[119] Vgl. Joachim Kühn, „Fährmann“, Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, hg. v. Kurt Ranke, Berlin/ New York: Walter de Gruyter 1984, S. 785–793, hier: S. 787.
[120] Kühn, „Fährmann“, S. 787.
[121] Vgl. Groschner, „Seelenbegleiter und Jenseitsreisende“, S. 179.
[122] In vielen antiken Gräbern wurden Verstorbene mit einer Münze im Mund gefunden, was auf die Bedeutsamkeit der Fährimaa Charon im Jenseitsglauben der Griechen schließen lässt. Hierfür siehe auch: Thüry, Die antike Münze als Fundgegenstand, S. 92–121.
[123] Vgl. Kühn, „Fährmann“, S. 786.
[124] Ebd.
[125] Vgl. a. a. O., S. 788.
[126] A. a. O. S., S. 785f.
[127] Ebd.
[128] Gerald Raunig, Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien: Passagen 1999, S. 110.
[129] Gerald Raunig, Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien: Passagen 1999, S. 110f (Hervorhebung im Original).
[130] Raunig, Charon, S. 112.
[131] Jan Distelmeyer, „Fahren und Kontrollieren. Automatisierte Mobilität als programmatischer Kreislauf“, Autonome Autos. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Zukunft der Mobilität, hg. v. Florian Sprenger, Bielefeld: transcript 2021, S. 259–282, hier S. 273.
[132] Distelmeyer, „Fahren und Kontrollieren“, S. 273.
[133] A. a. O., S. 274.
[134] Distelmeyer, „Fahren und Kontrollieren“, S. 280.
[135] Dominik Kress, GraphQL. Eine Einführung in APIs mit GraphQL, Heidelberg: dpunkt.verlag 2020, S. 2.
[136] Julia Bee, „Vom individuellen Autofahren zu Mobilitätsgemeinschaften. Für ein relationales Verständnis von Mobilität und Verkehr als commons, Autonome Autos. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Zukunft der Mobilität, hg. v. Florian Sprenger, Bielefeld: transcript 2021,S. 117–146, hier: S. 125.
[137] Vgl. Bee, „Vom individuellen Autofahren zu Mobilitätsgemeinschaften“, S. 125.
[138] A. a. O., S. 261.
[139] Vgl. a. a. O., S. 137.
[140] A. a. O., S. 137f.